Gesellschaftskritische
Ibsen-Kompostierung
von Sivan Ben Yishais
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Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert am DT Berlin | Foto (C) Jasmin Schuller
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Bewertung:
Die israelische Dramatikerin Sivan Ben Yishai ist seit 2020 dreimal für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert worden. Für Wounds Are Forever (2022) hat sie ihn bekommen. 2022 und 2023 wurde sie von der Zeitschrift Theater heute zur Dramatikerin des Jahres gekürt. In diesem Jahr kommt noch der durch die Stiftung Preußische Seehandlung verliehene Theaterpreis Berlin dazu. Die Dramatikerin ist laut der Jury „am Firmament des deutschsprachigen Theaters erschienen wie ein Komet“. Mehr an Ehrungen ist kaum noch möglich. Nun liegt ihr neues Stück Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert vor. Die Uraufführung fand am 13. Januar d.J. am Schauspiel Hannover in der Regie von Marie Bues statt. Die Zweitaufführung besorgte Anica Tomić für das Deutschen Theater Berlin.
Bereits 2022 schrieb Sivan Ben Yishai den Theatertext Nora:Prolog, der mit Texten von zwei weiteren Autorinnen im Rahmen der Ibsen-Überschreibung Nora. Ein Thriller, inszeniert von Felicitas Brucker, an den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Darin legt Sivan Ben Yishai den Fokus von Ibsens Hauptfigur Nora auf die Randfiguren der Geschichte um. Es entspinnt sich dabei ein Gespräch der Figuren am Regietisch über das Rollenverzeichnis und die jeweilige Position darin. Diese lockere Idee hat die Autorin nun zu einem Stücktext ausgebaut, der sich eingehender den marginalisierten Figuren widmet. Das sind im Einzelnen das Kindermädchen Anne-Marie, das Hausmädchen Helene und der namenlose Paketbote vom Beginn des Stücks. Das Augenmerk wird hier auf die fehlenden Biografien der Figuren, ihren geringen Sprachanteil und die Rolle im Gefüge des Herrenhauses gelegt. Noras Geschichte wird so auch zu einer „Geschichte über ein Haus“.
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Das Haus ist dann auf der Bühne der Kammerspiele auch als einsehbares, doppelstöckiges Gebilde aus einer Holzrahmenkonstruktion (Bühnenbild: Mila Mazić) präsent. Peter René Lüdicke radelt launig und klingelnd als prekär beschäftigter Fahrrad-Lieferant über die Bühne und besteht trotzig auf seinem Rollennahmen „EIN Paketbote“. Seine Replik „50 Öhre“ (immerhin vier Silben) auf die Frage von Nora „Wieviel?“ wird zum Running Gag der Inszenierung, die Anica Tomić eher als Komödie angelegt hat. Schon der Text von Sivan Ben Yishai verhandelt aktuelle Diskurs-Themen wie Gender Pay Gap, Diversität oder nonbinäre Geschlechterzuschreibung mittels passender Pronomen als Lieferanten für ironische Pointen. Der im Stück ebenfalls enthaltene Diskurs über Klassismus und weißem Mittelklasse-Feminismus erschöpft sich über die Rollen als Dienstboten und Kleindarsteller. Alle drei bekommen hier ihre Geschichte, die in Ibsens Stück gar nicht oder nur am Rande erwähnt wird. Lisa Birke Balzer als Dienstmädchen Helene muckt selbstbewusst gegen ihre auf Geschlecht und Stellung reduzierte Rollenbezeichnung auf. Steffi Krautz als Kindermädchen Anne-Marie darf ihre eigene Geschichte als Mutter, die ihr Kind für die Helmers aufgegeben hat, erzählen. Zur weiteren Beglaubigung und Belebung des Hauses bietet die Regisseurin auch noch ein paar ansonsten relativ unnütze Statisten auf, die hoffentlich anständig bezahlt wurden.
Vom gekürzten Stückpersonal sind noch das Paar Nora und Torvald Helmer vorhanden. Anja Schneider gibt hier die gestresste Klein-Unternehmerin, die mit diesem Klassiker des Feminismus eine Gastspiel-Theatertruppe über die Jahre des Gesellschaftswandels und Kulturkampfs auch mittels Kürzungen von Rollen, Text und Gagen über Wasser halten muss und dabei mit den Forderungen der revoltierenden Nebenfiguren konfrontiert wird. Jörg Pose ist eher ein etwas trotteliger Hausherr, dessen Versuche seine Frau abzuwerten man nicht mehr ernst nehmen kann. Sivan Ben Yishai bedient sich da auch immer mal wieder aus Ibsens Original. Der sich in seiner Selbstgefälligkeit sonnende Patriarchen-Dinosaurier hat dann noch einen netten Solo-Auftritt, bei dem er die guten alten Zeiten heraufbeschwört, in denen es „diese ganze postmoderne Theaterpädagoginnen-Scheiße“ nie auf eine Bühne geschafft hätte. Diese selbstironisierende Betriebskantinen-Nudelei ist ja sehr beliebt. Das Theater bespiegelt sich selbst und glaubt sich so im Mittelpunkt gesellschaftskritischer Debatten.
Als weitere Reflexionsebene dient der Autorin die Figur der Christine, eine Jugendfreundin Noras. Natali Seelig führt in die Geschichte ein, kommentiert vom Rande und hat, nachdem sich die Nebenfiguren in die „Fußnoten“, sprich das Fundament des Hauses zurückgezogen haben noch einen denkwürdigen Schlussmonolog. Dabei bekommt endlich auch der Stücktitel einen Sinn, da sich nun die metaphorischen Maden im Untergrund über das Haus und die Gebeine des toten Autors hermachen und so für den fruchtbaren Kompost sorgen, aus dem neue Geschichten entstehen sollen. Noch ein wenig breitgetreten wird aber vermutlich auch das irgendwann wieder auf dem Misthaufen landen.
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Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert am DT Berlin | Foto (C) Jasmin Schuller
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p. k. - 5. Februar 2024 ID 14591
NORA ODER WIE MAN DAS HERRENHAUS KOMPOSTIERT (Kammerspiele, 02.02.2024)
von Sivan Ben Yishai
Regie: Anica Tomić
Bühne: Mila Mazić
Kostüme: Drina Krlić
Musik: Nenad Kovačić
Choreografie: Lada Petrovski Ternovšek
Licht: Kristina Jedelsky
Dramaturgie: Christopher-Fares Köhler und Jelena Kovačić
Besetzung:
Helene ... Lisa Birke Balzer
Anne-Marie ... Steffi Krautz
Ein Paketbote ... Peter René Lüdicke
Torvald Helmer ... Jörg Pose
Nora Helmer ... Anja Schneider
Christine ... Natali Seelig
Hausbewohnerinnen und Hausbewohner: Irina Fedorova, Christian Herschmann, Lena Hollenstein, Elisabeth Jessen, Gerwin Kästner, Lennart Mohren und Tanja Watoro
UA am Schauspiel Hannover: 13. Januar 2024
Premiere am DT Berlin: 27. Januar 2024
Weitere Termine: 11., 20., 29.02. / 04., 23., 27.03.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/
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