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nachDRUCK # 6

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TANZ IM AUGUST

AUSLAND

Jefta van Dinther


Bewertung:    



Gleich vorweg:

Jefta van Dinthers fast dreistündiges Gesamtkunstwerk AUSLAND ist das mit Abstand Faszinierendste, was ich die vielen Jahre, die ich schon über TANZ IM AUGUST berichte, jemals sah und hörte (!). Und ich steh' hiervon noch immer, und obwohl ich eine Nacht darüber schlief, wie unter Drogen.



"Wo enden Freiheit und Freude am Experimentieren, und wo beginnen Grenzüberschreitung und Gewalt? In einer Reihe neuer Arbeiten, die genreübergreifend Bewegung, Lieder, Film, Gaming und Objekte verbinden, untersucht van Dinther die menschliche Sehnsucht nach einer alternativen Wirklichkeit. Das Publikum ist eingeladen, in eine immersive Installation einzutauchen – ein Irrgarten aus Performances, die sich mit aktuellen Themen wie virtueller Realitätsflucht, Deepfakes oder unserem Verhältnis zu Maschinen befassen. AUSLAND ist ein Balanceakt zwischen Subversion und Illusion, in dem aus Spiel jederzeit Ernst werden kann."

(Quelle: tanzimaugust.de)

*

Kurz nachdem ich die dunkle "Eingangshalle" vom Kraftwerk Berlin - dem ab 2005 zu einem gigantischen Ausstellungs- und Veranstaltungsort um- und ausgebauten ehemaligen Heizkraftwerk Mitte (in der Köpenicker Straße, nahe des S-Bahnhofs Jannowitzbrücke) - betrat, waren auf einer überdimensionalen Leinwand zwei nackte Männer zu sehen: Juan Pablo Camara & Roger Sala Reyner. Ich kannte sie bereits; 2017 gastierten sie mit der Performance Dark Field Analysis im HAU2 - das Stück wurde hiernach von seinem Choreografen (Jefta) und dem Filmemacher Max Vitali als Video produziert...

Auf der gegenüberliegenden Seite des sich fast 120 Meter erstreckenden Betonungetüms hatte die Bühnen- und Kostümdesignerin Cristina Nyffeler eine mit gelblichem Licht beleuchtete Insel aus teils abgewetzten alten Matratzen installiert - das diente als ein mehrmaliger Tummelplatz, wo sich die neun Performerinnen und Performer vereinzelt und in Gruppe(n) hinlagerten, um unter- und miteinander körperliche Erst- und Fortbegegnungen in unterschiedlicher Intensität zu zelebrieren; ich gesellte mich etwas zu spät dorthin und kriegte so (freilich vorübergehend nur) nichts weiter mit, die zuschauende Traube um die Insel war bereits so dicht, dass ich Zuspätkommender keine Chance hatte irgend etwas zu erkennen - also orientierte ich mich erstmal anderweitig in der Riesenhalle um:

Und über eine Eisentreppe gelangte ich ins obere Gefilde, und von da aus konnte man wie auf 'ner Galerie nach unten schauen, allerdings - ein arg bedrohlich anmutender Synthesizer-Sound (Billy Bultheel) auf dieser Ebene und rechts der Galerie leitete mich wie unter Zwang zu einer nächsten überdimensionalen Leinwand, auf der eine schattenrissartige Dystopie - wenige kleinkindartige Fantasiewesen durchstreunen eine vollkommen kaputt gerat'ne Stadt- und Außenwelt, später sieht man sie in einer mit Riesenzahnrädern und Ambossen bestückten Fabrikhalle, wo Autoreifen oder ähnliches gewerkt und transportiert werden - zu sehen war...

Wieder unten und in Inselnähe angelangt, vernahm ich Klänge von betörend schönen Stimmen, und sie schienen aus zwei mannshohen Lautsprecherboxen zu kommen, doch dann sah ich plötzlich, als ich zwischen diesen beiden Boxen hin und her gegangen war, dass live gesungen wurde und die Boxen es "nur" leicht verstärkten: Mette Nadja Hansen und Gyung Moo Kim artikulierten sich sakral und ziemlich mittelalterlich und fuhren ihre jeweilige Box in Richtung eines nächstfolgenden Betätigungsfeldes:

Dort drehten drei tellerminengleiche Saugroboter ihre Kreise; um sie herum gruppierte sich so nach und nach ein neuer Zaun von Zuschauenden - ja und nach und nach schälten sich unsere Performerinnen und Performer aus der zuschauenden Anonymität heraus und bildeten eine sich quälend langsam Zentimeter für Zentimeter zuckend und steif voranbewegende (Zombie-)Formation; das dauerte und dauerte...

Parallel bemerkte ich, dass die splitternackte Louise Dahl (noch unangeleuchtet) sich zur Nähe der Matratzen-Insel hinbemühte - - später waren sie und Roger Sala, welcher völlig abgehoben und in sich gekehrt John Dowland live gesungen hatte, der zentrale Hingucker und -horcher: Sie versuchte sich seiner körperlich zu bemächtigen, er reagierte nicht, sie zerrte ihm all seine Kleidungsstücke vom Leib, er reagierte trotzdem nicht, sie wirkte immer unzufriedener und gieriger nach ihm, ja und er sang und sang und sang für sich, als wäre sie in seiner Welt nicht da; nein, was für eine tolle Szene!!

Hin und her...

Wie gebannt sah ich den Fahrschleifen, die Juan Pablo auf seinem Elektro-Einrad drehte, nach...

Dann wurde die sich längst bewährt habende Matratzen- zur Liebesinsel; alle neun probierten - zunächst die fünf Männer für sich, später die vier Frauen (auch zunächst für sich) hinzu, und also alle durcheinander - abenteuerlichste Sexstellungen mit-/ untereinander aus; für monogam praktizierende Paare unter den Zuschauenden sicherlich mehr als herausfordernd geschweige denn gewöhnungsbedürftig. Grandiose Choreografie (Jefta! der dort auch persönlich kräftigst mitmischte)!!

Befremdlich schön und düster das Finalbild:

Alle neun schritten den Mittelgang der 120 Meter langen "Straße", und von hinten grell gegen das Publikum geblendet, Schritt für Schritt voran; aus ihren mitgeführten Bluetooth-Lautsprechern ertönten Trommelwirbel, was das Ganze martialisch machte, und sie alle sangen live (und um so himmlischer) John Dowlands "Flow, my tears"...

Emotional verwirrend: AUSLAND?

Lauter Bilder, Klänge: Gänsehaut.




Roger Sala Reyner und Louise Dahl in AUSLAND von Jefta van Dinther | Foto (C) Jubal Battisti; Bildquelle: jeftavandinther.com

Andre Sokolowski - 20. August 2024
ID 14877
AUSLAND (Kraftwerk Berlin, 19.08.2024)
Choreografie: Jefta van Dinther
Musikkomposition: Billy Bultheel
Kostüm- & Bühnenbild: Cristina Nyffeler
Lichtdesign: Jonatan Winbo
Stimmtraining: Mette Hansen und Doreen Kutzke
Dramaturgische Beratung: Maja Zimmermann
Mit: Juan Pablo Cámara, Louise Dahl, Jefta van Dinther, emeka ene, Mette Nadja Hansen, Leah Katz, Gyung Moo Kim, Leah Marojević und Roger Sala Reyner
Eine Produktion von Jefta van Dinther in Kooperation mit TANZ IM AUGUST und Dansens Hus Stockholm


Weitere Infos siehe auch: https://www.tanzimaugust.de


https://www.andre-sokolowski.de

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