Parabel auf
die Schrecken
des Krieges
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Der Wij am Thalia Theater Hamburg Foto (C) Fabian Hammerl
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Bewertung:
Bereits im Frühjahr 2022 kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine begann der russische Regisseur Kirill Serebrennikov gemeinsam mit dem ukrainischen Dramatiker Bohdan Pankrukhin das Theaterstück Der Wij (nach Motiven einer gleichnamigen Erzählung des russischen Schriftstellers Nikolai Gogol) zu schreiben. Gogol, selbst ukrainischer Herkunft, hatte die Figur des Wij, eines Dämons der Unterwelt, der slawischen Mythologie entlehnt und für eine Geschichte für seinen Erzählband Mirgorod, eine ukrainische Stadt aus Gogols Kindheit, benutzt.
Ein Kiewer Student wird auf einer Reise in einem Gasthaus von einer unheimlichen Wirtin bedrängt, die sich als Hexe entpuppt und auf dem Studenten durch die Nacht reitet, bis dieser sie abschütteln und totschlagen kann. Die Sterbende nimmt dabei die Gestalt eines jungen Mädchens an, das der Student später wiedertrifft, als er auf Bitte seines Rektors Sterbegebete für die Tochter eines Gutsbesitzers lesen soll. Der Student erkennt das Mädchen wieder und hält, nachdem es gestorben ist, auch die Totenwache. Die Hexe entsteigt nun nachts dem Sarg und bedroht den betenden Studenten, der daraufhin vor Schrecken und Erschöpfung stirbt. Nach den Beschwörungen der Hexe erscheint der Erdgeist Wij, ein Dämon mit geschlossenen Augen, dessen Lider bis zum Boden reichen und nur von anderen gehoben werden können. Wer den Wij in die Augen blickt, muss sterben.
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Es erscheint nicht verwunderlich, dass diese Schauergeschichte immer wieder Vorlage für diverse Grusel-Filme war. Pankrukhin und Sereberennikov dient sie als düstere Fabel auf den Krieg. Der Wij als Sinnbild für Gewalt, Angst, Tod und Leid. Die beiden haben in Berichten, Dokumentarfilmen und Videos über den Krieg recherchiert. Sie haben in den Text auch dokumentierte Gespräche russischer Soldaten mit ihren Familien über gestohlene Handys und Waschmaschinen einfließen lassen und bringen so die russischen Verbrechen in der Ukraine auf die Bühne des Thalia in der Gaußstraße. Den Protest von einigen UkrainerInnen am Premierenabend wegen der Vereinnahmung ukrainischer Kultur und der Verharmlosung der russischen Täter muss man nach der Vorführung eigentlich zurückweisen, was Thalia-Intendant Joachim Lux einen Tag später im Deutschlandfunk Kultur auch tat.
Serebrennikov selbst hat in seinen Inszenierungen nie mit Kritik an Russland gespart. Seit Januar dieses Jahres kann der Regisseur nach vierjährigem Reiseverbot und der Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe wegen angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder Russland wieder verlassen. Nach Der schwarze Mönch von Anton Tschechow ist Der Wij seine zweite Inszenierung am Hamburger Thalia Theater mit einem internationalen Ensemble aus Deutschland, Russland und der Ukraine. Und wie im Schwarzen Mönch ist auch diese Inszenierung stark körperlich geprägt, was gleich zu Beginn recht deutlich wird, wenn es auch im von Serebrennikov gestalteten schwarzen Bühnenkasten nie wirklich hell wird. Mit Taschenlampen funzeln drei Männer in einem dreckigen Kellerloch herum und treten auf ein kaum noch lebendiges Bündel aus Lumpen ein.
Johannes Hegemann, Pascal Houdus und Oleksandr Yatsenko spielen drei Brüder, die einen fremden Soldaten (Filipp Avdeev), erst genannt „der Okkupant“, später höhnisch „der Befreier“, im Keller gefangen halten und sich an ihm wegen vermutlich von ihm begangener Kriegsverbrechen rächen wollen. Der etwas wunderliche Großvater (Falk Rockstroh) kann die drei aber zurückhalten und schlägt dem Soldaten vor, seiner Enkelin Geschichten vorzulesen. Aus der nur noch zum Heizen genutzten Bibliothek holt er dazu eine englische Ausgabe von Shakespeares Romeo und Julia. Die Enkelin (Rosa Thormeyer) wird von den Brüdern in einem offenen Sarg hereingetragen. Sie ist bei einem Bombenangriff getötet worden. Der Vater (Bernd Grawert) hockt verzweifelt vor ihrem Sarg.
Was nun folgt, ist kein gruseliger Hexen-Sabbat sondern ein Spiel nach Shakespeare-Versen der drei Brüder mit der toten Schwester im Arm. Das wirkt recht surreal und auf den gefangenen Soldaten nicht minder verstörend. An Kletterwänden hängend erzählen die drei Brüder auch von Folterlagern und Erschießungskommandos. Der weiterhin stumme Soldat wird wie auch das Publikum einer gnadenlosen Psychofolter unterworfen. Auch das tote Mädchen spricht mit dem Soldaten. Seine Schuld wird ihm hier vor Augen geführt. Später tritt auch noch die Mutter (Viktoria Miroshnichenko) des Soldaten auf. Ein Monolog der Rechtfertigungen und Anweisungen an den Sohn, so zu sterben, dass er noch identifiziert werden kann und die Mutter Sterbegeld erhält.
Die DarstellerInnen sprechen nicht nur deutsch, sondern auch russisch und ukrainisch, was nicht in Übertiteln übersetzt wird, aber dennoch durch Wiederholungen in deutscher Sprache klar wird. Serebrennikow überträgt Gogols Geistergeschichte in die unmenschliche Barbarei des Krieges. Das ist zumeist nicht sehr subtil aber durchaus wirksam. Die Bewegungen sind wie zumeist bei seinen Inszenierungen stark choreografiert. Auch Live-Musik wird von den DarstellerInnen gespielt. Die Erscheinung des Wij in der Figur des Vaters mit Blindenbrille gerät dann zur bösen Farce, bei der Bernd Grawert einen zynische Witze reißenden und Beifall einfordernden Conférencier des Todes gibt. „Ich gehe dorthin, wohin ich gerufen werde.“ In den zwei intensiven Stunden kann einem schon mal der Atem stocken. Und auch der Soldat erhält am Ende sich auf dem Sargdeckel windend noch seine Sprache zurück. Ein Bündel Elend, fürs Vaterland zum Mitmachen gezwungen. Beifall mag man da nicht mehr zollen, was auch explizit nicht erwünscht ist. Dennoch sei dieser Abend empfohlen.
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Der Wij am Thalia Theater Hamburg | Foto (C) Fabian Hammerl
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Stefan Bock - 6. Dezember 2022 ID 13953
DER WIJ (Thalia in der Gaußstraße, 04.12.2022)
Regie, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikov
Mitarbeit Bühne: Elena Bulochnikova
Mitarbeit Kostüme: Shalva Nikvashvili
Musik: Daniel Freitag
Choreografie: Ivan Estegneev und Evgeny Kulagin
Licht: Sergej Kuchar
Künstlerische Mitarbeit: Anna Shalashova
Dramaturgie: Matthias Günther
Mit: Filipp Avdeev, Bernd Grawert, Johannes Hegemann, Pascal Houdus, Viktoria Miroshnichenko, Falk Rockstroh, Rosa Thormeyer und Oleksandr Yatsenko
UA am Thalia Theater Hamburg: 3. Dezember 2022
Weitere Termine: 06. 23., 28.12.2022// 11., 12, 31.01./ 01.02.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.thalia-theater.de/
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