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Uraufführung

Fantômas von René Pollesch

Der Volksbühnen-Intendant schickt sein spielfreudiges Ensemble in eine ziellos mit Literatur- und Popkultur-Zitaten überfrachtete zähe Castorf-Kopie

Bewertung:    



Es gibt eine alte Bühnenregel von Anton Tschechow, die besagt, dass ein Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hängt, im zweiten oder dritten Akt unbedingt losgehen muss. Nun gibt es in René Polleschs Stücken keine Akte und meist auch keine stringente Handlung. Und die Pistole, mit der Martin Wuttke in Polleschs neuem Stück Fantômas von Beginn an rumfuchteln muss, reicht dann auch nur für einen müden Kalauer mit Browning und Brownie. Wer aber die Literaturliste, die der Intendant der Berliner Volksbühne diesmal abgearbeitet hat, nicht kennt, oder auch in der Serienwelt von Netflix nicht zu Hause ist, dürfte dann immerhin im übertragenen Sinne erschossen sein.

Neben der titelgebenden Hauptfigur einer französischen Serie von Kriminalromanen, die Pierre Souvestre und Marcel Allain zwischen 1911 und 1913 geschrieben haben und die in den französisch-italienischen Kriminalkomödien von Regisseur André Hunebelle mit Jean Marais als nicht zu fassender maskierter Bösewicht und Louis de Funès als trotteliger Kommissar Juve bekannt wurde, hat sich Pollesch von der Netflix-Serie The Americans über ein russisches Paar in den 1980ern, das als KGB-Spione in einem Vorort von Washington D.C. lebt und denen ein Nachbar und FBI-Agent auf der Spur ist, inspirieren lassen. Den FBI-Mann mimt zeitweilig Martin Wuttke, das KGB-Paar wird von Kathrin Angerer und Benny Claessens verkörpert. Meist in schwarzen Kapuzen-Trikotaschen mit Umhang und Masken ergänzen Campbell Caspary und Sonja Weißer das Stück-Personal.

Gespielt wird in einem Holzlattenbühnenbild von Leonard Neumann, der damit auf den Spuren seines Vaters Bert Neumann wandelt. Mit der neben dem offenen Lattenhaus stehenden kasachischen Jurte wirkt das wie ein Zitat der Castorf-Inszenierung von Nach Moskau! Nach Moskau!, in der der Ex-Volksbühnen-Intendant 2010 Tschechows Drei Schwestern mit dessen Kurzgeschichte Die Bauern verknüpfte. Um Moskau geht es hier aber nicht, sondern außerdem noch um den Roman Petersburg des russischen Symbolisten Andrej Belyj, der neben Kant und Nietzsche auch zeitweise den Anthroposophen Rudolf Steiner verehrte. Der Roman spielt 1905 und handelt in vierundzwanzig Stunden den Versuch des Möchtegern-Revoluzzers und Kant-Adepten Nikolaj Apollonowitsch Ableuchow (hier von Benny Claessens verkörpert) ab, seinen Vater, einen Senator, mit einer Bombe zu ermorden. Martin Wuttke gibt den Anstifter Alexander Iwanowitsch Dudkin. Diese höchst komödiantischen Szenen spielen sich in der kleinen Jurte ab und werden wie auch andere Szenen aus dem Lattengerippe nebenan auf zwei Videoleinwände links und rechts der Bühne übertragen.

Wer da nicht unweigerlich an Frank Castorf denkt, ist erst nach dessen langjähriger Intendanz an die Volksbühne geraten. Und dem zahlreich erschienenen, oft sehr jungen Publikum des Premierenabends scheint das zu gefallen. Aber wenn in einer Castorf-Inszenierung das Wort "Petersburg" fiel, dann konnte man sicher sein, dass das auch einen Sinn hatte und man nicht nur zum Vergnügen mit Hintergrundwissen zur russischen Geschichte bespaßt wurde. So wirkt das hier alles etwas willkürlich zusammengeschustert und im Anbetracht der jetzigen Situation mit Ukraine-Krieg und Hamas-Terror gelinde gesagt im Kontext etwas unglücklich nebulös platziert. Die Unsicherheit als Spielmotto. Und so flüchtet sich das recht spielfreudige Ensemble, wenn es nicht gerade die immer präsente Souffleuse Elisabeth Zumpe um Texthilfe anbetteln muss, ein ums andere Mal in den Slapstick.

Das sind Momente, in denen man verzeihen möchte, dass man mit pausenloser zwei-dreiviertel Stunden Spieldauer nicht nur in einen zu lang geraten Pollesch sondern vor allem in einen viel zu kurzen Castorf geraten ist und applaudiert Martin Wuttke beim minutenlangen Aufzählen und Mimen von Gesichtsformen und Arten des Gangs, bei denen sich selbst die Mitspielenden kaum noch halten können. Dass es neben dem Ganzen auf Dauer leider etwas zähen Klamauks auch um übliche Pollesch-Themen der Repräsentation mit dem Spaß am Verkleiden, Maskentragen, der Sinnsuche oder dem Ausdruck von Gefühlen wie Liebe und Angst geht, wird nur in wenigen Spielszenen deutlich. Bereits in seinem Ingmar-Bergman-Verschnitt Mein Gott, Herr Pfarrer! hat Pollesch die ausgetretenen Pfade seines kurzweiligen und übertourigen Diskurs-Theaters zu Gunsten einer literaturlastigen Stückentwicklung verlassen. Man wird sich wohl daran gewöhnen müssen, dass der späte Pollesch dem Volksbühnen-Übervater Castorf immer ähnlicher zu werden scheint.




Martin Wuttke in Fantômas von René Pollesch - in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz | Foto (C) Apollonia Theresa Bitzen

p. k. - 14. Oktober 2023
ID 14431
Fantômas von René Pollesch (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 11.10.2023)
Regie: René Pollesch
Bühne: Leonard Neumann
Kostüme: Tabea Braun
Videokonzeption: Jan Speckenbach
Kamera: Marlene Blumert und Jan Speckenbach
Licht: Frank Novak
Dramaturgie: Anna Heesen
Mit: Kathrin Angerer, Campbell Caspary, Benny Claessens, Sonja Weißer, Martin Wuttke und der Souffleuse Elisabeth Zumpe
UA war am 11. Oktober 2023.
Weitere Termine: 22.10. / 05., 29.11.2023

Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin


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