Agententhriller,
Bombenattentat
und anderes
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Josef Ostendorf und Charlie Hübner in Der Geheimagent (Regie: Frank Castorf) am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Thomas Aurin
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Bewertung:
Während die Berliner Volksbühne unter dem neuen Intendanten René Pollesch momentan eher ungewissen Zeiten entgegengeht, rockt ihr Ex-Intendant Frank Castorf, wenn er nicht am Berliner Ensemble inszeniert, unverdrossen andere Bühnen des Landes. So gerade mit einer 5-Stunden-Inszenierung von Joseph Conrads Agententhriller Der Geheimagent das Deutsche Schauspielhaus Hamburg. Der 1907 veröffentlichte Roman spielt im viktorianischen London um 1886 zur Blütezeit der britischen Kolonialmacht, was Castorf dazu bewogen hat, weitere Werke das Schriftstellers und früheren Seefahrers wie den Afrika-Roman Herz der Finsternis in die Handlung einzuweben. Der Roman spannt den Bogen zur europäischen Kolonialgeschichte - im Jahr 1885 war auf der Berliner Kongokonferenz Afrika in Kolonien aufgeteilt worden - und deren Verbrechen auf dem afrikanischen Kontinent, die Conrad als Augenzeuge detailliert beschreibt.
Auf die große Bühne des Schauspielhauses hat Aleksandar Denic ein drehbares Backsteingebäude gebaut, das im Wechsel Number 10 Downing Street, den Sitz der britischen Premierminister, einen alten Krämerladen, ein hohe Brandmauer und einen Bahnhofsschalter zeigen. Ordentlich Trockeneis suggeriert den Londoner Nebel, und die bewehrten Livekameras zeigen Spielszenen aus dem Inneren des Bühnenbilds und einem am Rande stehenden Eisenbahnabteils. Mehr oder weniger alles Orte aus Conrads Roman Der Geheimagent, in dem der abgehalfterte Spion und ehemalige Anarchist Adolf Verloc im Dienste der Gesandtschaft einer nicht näher bezeichneten ausländischen Macht einen Sprengstoffanschlag auf das Observatorium Greenwich verüben soll, um die liberale britische Regierung zur Ergreifung härterer Maßnahmen zur inneren Sicherheit auf einem in Mailand stattfindenden Kongress zu bewegen. Der Roman bietet ein interessantes gesellschaftspolitisches Bild Londons vom Kleinbürgertum über die anarchistische Szene bis in hohe Regierungskreise.
Hat schon der Roman keine durchweg chronologische Handlung und schweift oft in Beschreibungen der einzelnen Figuren ab, beginnt auch Frank Castorf seine Inszenierung mit einer Nebenfigur. Durchs Bühnenbild irrlichtert hier Angelika Richter als Adolf Verlocs Schwiegermutter, die der als Tarnung einen Krämerladen führende Agent und Polizeispitzel nebst Frau Winnie und deren als schwachsinnig bezeichneten Bruders Stevie in sein Haus in Soho aufgenommen hat. Stevie wird noch eine besondere Rolle spielen als derjenige, den Verloc in seine Bombenpläne einbezieht und der beim Transport nach Greenwich die Bombe versehentlich kurz vor dem Observatorium zündet. Seine Überreste mit der von Winnie in den Kragen eingenähten Adresse führen die Polizei schließlich auf die Spur Verlocs.
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Der Geheimagent (Regie: Frank Castorf) am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Thomas Aurin
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Nun ist es natürlich Castorfs Sache nicht, das genauso für alle verständlich nachzuerzählen. Er führt das Publikum kreuz und quer zu den Spielorten des Romans wie einen Vorortzug, mit dem Stevie immer wieder zum ehemaligen, auf Bewehrung aus dem Gefängnis entlassenen Anarchisten Michaelis fährt, was Paul Behren als Stevie für jede Menge Slapstick nutzt. Mattie Krause, der auch noch die Rollen des erkrankten Michael Weber übernommen hat, tritt hier als Käpt‘n-Cook-Karikatur mit Hakenhand auf. Außerdem gibt er noch den Gesandtschafts-Sekretär, den im Bomben-Fall ermittelnden Kommissar Heat und den Anarchisten Ossipon, der, nachdem Winnie ihren Mann Verloc erstochen hat, mit ihr nach Frankreich fliehen will, sie dann aber doch ohne Geld sitzen lässt. Paul Behren brilliert neben der Rolle des Stevie noch als durchgeknallter Bombenbau-Professor und unterhält auch vortrefflich als Klavierspieler und Interpret französischer Chansons.
Das Ganze ist ein Kolportagestoff der Sonderklasse, der hier zum Vergnügen des Publikums immer wieder mit viel Sinn für Situationskomik vom spielfreudigen Ensemble dargeboten wird. Zu den Highlights des Abends gehören ohne Zweifel die schon im Roman sehr kuriosen Treffen Verlocs mit dem Gesandten Wladimir, der den in seinen Augen verfetteten Agenten auf Trab bringen will, oder dem distinguierten Innenminister Sir Ethelred mit dem Kriminaldirektor von Scotland Yard, bei denen Charly Hübner und Josef Ostendorf zu Höchstform auflaufen. Auf zwei Empire-Stühlen werden dann von den beiden vor der Tür 10 Downing Street die Szenen aus Herz der Finsternis verhandelt.
Frank Castorf hat die koloniale Schuld des Westens in früheren Inszenierungen wie Baal oder Faust sicherlich wesentlich dichter und dringlicher erzählt, aber auch hier bei Conrads Beschreibungen kann einem der Atem stocken. Mehr als einmal bietet dafür Castorf den beiden Schauspielrinnen Anne Müller (Winnie Verloc u.a.) und Angela Richter (ebenfalls in mehreren Rollen) reichlich Präsenz in den wie immer tollen Kostümen von Adriana Braga Peretzki die bräsigen Männer zu dominieren. Der Ehrgeiz Castorfs diesen ohnehin schon überbordenden Abend auch noch bis zum bitteren Ende erzählen zu wollen, mündet wie in einer Art Zugabe noch in einen fulminanten Voodootanz mit dem Tod (Matti Krause) und einer nicht enden wollenden Zugfahrt, bei der Winnie Verloc in der Zeitung von ihrem eigenen Tod erfährt. Aber unter 5 Stunden macht‘s der Frank halt nicht.
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Stefan Bock - 15. November 2021 ID 13296
DER GEHEIMAGENT (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 12.11.2021)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Lothar Baumgarte
Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink
Stand-In Live-Kamera: Martin Prinoth
Live-Kamera: Andreas Deinert und Severin Renke
Video- und Live-Schnitt: Alexander Grasseck und Marek Lukow
Sounddesign: William Minke
Tonangel: Michael Genter und Jochen Laube
Dramaturgie: Patric Seibert
Mit: Paul Behren, Charly Hübner, Matti Krause, Anne Müller, Josef Ostendorf, Angelika Richter und Matti Krause
Premiere war am 12. November 2021.
Weitere Termine: 05., 19.12.2021 // 02., 29.01.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielhaus.de
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