Augenblicke
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Lea Ruckpaul als Alice und Thiemo Schwarz als Neil in Linda am Düsseldorfer Schauspielhaus | Foto © Sandra Then
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Bewertung:
Obwohl es den Begriff "Augenblicke" mit seinen vielfachen Bedeutungsmöglichkeiten im Englischen nicht gibt, handelt das 2015 am Royal Court Theatre London uraufgeführten Stück Linda von der Britin Penelope Skinner davon. Es geht um Blicke, wie insbesondere Männer oft auf Frauen schauen. Dann geht es darum, dass Frauen ab etwa 50 nicht mehr auf eine solche Weise, also als eine mögliche begehrenswerte Eroberung, angeschaut werden. Oft meinen sie diesbezüglich allmählich unsichtbar zu werden. Es geht um den Blick auf die Augen und die Falten drumherum, um den Blick auf Vergangenes und welche Bedeutung es für die Gegenwart hat und nicht zuletzt um diesen einen Moment unserer Gegenwart, es geht um diesen Augenblick.
Hinsichtlich dieser letztgenannten Bedeutung des Begriffs wartete Marius von Mayenburgs Inszenierung von Linda am Düsseldorfer Schauspielhaus bereits am Anfang mit zwei überraschenden Momenten auf:
In einer Szene surft Neil (Thiemo Schwarz), der Ehemann der Titelheldin (Claudia Hübbecker), geistesabwesend im Internet, als er sich nebenbei im Gespräch mit seiner Frau über die Sängerin seiner Band, Stevie (Caroline Cousin), verplappert. Neil hat mit Stevie eine heimliche Affäre. Anschließend wendete sich der Neil-Akteur zweimal an den Souffleur, obschon der Text hier keine erkennbare Schwierigkeit bereithielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies inszeniert ist, wird fast schon zur Gewissheit als kurze Zeit später mit einem Knall ein Scheinwerfer ausgeht und Linda gleich darauf, entsprechend der Textvorlage, etwas mit Bezug auf Licht und Erkenntnis sagt. Die zweifelhafte Zufälligkeit dieser pointierten Wendungen können spätere TheaterbesucherInnen für sich überprüfen.
Eingangs hält die zentrale Figur, die 55-jährige Linda, einen engagierten Vortrag über ein Kosmetik-Produkt für Frauen in ihrer Altersgruppe. Die hintere Wand der Bühne und der Boden sind mit einer weißen Plane bedeckt. Auf der sonst weitestgehend leeren Bühne steht hochkant ein weißer Quader, der Linda als Pult oder Podest dient. Der Quader bleibt durchgehend als einziges Requisit auf der Bühne präsent. Linda wird während des Vortrags von Studioleuchten angestrahlt, was den Eindruck von ihr als Lichtgestalt verstärkt und an eine sterile Messe-Atmosphäre erinnert. Es geht immer auch ein bisschen um den schönen Schein. Später wird sie in einem ähnlichen Marketingsprech ihren beiden Töchtern am Küchentisch Lebensweisheiten auf den Weg geben.
Die preisgekrönte Managerin und Marketingstrategin ringt trotzdem alsbald frustriert um Selbstachtung, als ihr eine jüngere Kollegin, die skrupellose und ehrgeizige Amy (Hanna Werth) vorgesetzt und ihr eigens Konzept für eine neue Kampagne nicht umgesetzt wird. Claudia Hübbecker spielt eine ambivalente Figur, deren Wahrnehmung mitunter beschränkt ist und die Fehler macht. Als Zuschauer hat man Verständnis für ihre Schuldgefühle nicht genug bei der Familie respektive im Job zu sein. Ihre ältere Tochter Alice (Blanka Winkler) litt in der Schule unter Cybermobbing. Sie trägt seitdem ein Stinktierkostüm, erscheint abweisend und beziehungsunfähig.
Linda handelt lustvoll überzogen und ohne Scheu vor möglichen Klischees von Kleidergrößen, Karrieren, Kindererziehung und Schattenseiten einer versuchten Perfektion. Die deutschsprachige Erstaufführung ist köstlich überzeichnet. Da dienen übergroße Teddybären als Kinderbetten und Neil beziehungsweise Stevie bieten mindestens vier Rocksongs mit Nachdruck dar. Die Anhäufung der Konflikte und zufälligen Wiederbegegnungen erscheint etwas übertrieben und konstruiert. Nichtsdestotrotz ist das Boulevardstück pointenreich, sensibel und komisch inszeniert und überzeugt mit starken, temporeichen Darstellerleistungen.
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Claudia Hübbecker als Linda am Düsseldorfer Schauspielhaus | Foto © Sandra Then
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Ansgar Skoda - 23. Mai 2024 ID 14762
LINDA (Kleines Haus, 19.05.2024)
von Penelope Skinner
Deutsch von Katharina Pütter
Regie: Marius von Mayenburg
Bühne: Stéphane Laimé
Kostüm: Almut Eppinger
Musik: Nils Ostendorf
Licht: Konstantin Sonneson
Dramaturgie: Frederik Tidén
Besetzung:
Linda … Claudia Hübbecker
Alice … Blanka Winkler
Bridget … Caroline Adam Bay
Neil … Thiemo Schwarz
Amy … Hanna Werth
Stevie … Sophia Schiller
Luke … Christopher Eckert
Dave … Wolfgang Michalek
DSE am Düsseldorfer Schauspielhaus: 3. November 2019
Weiterer Termin: 20.06.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.dhaus.de
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