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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Zwischen Identität

und Anpassung



Absprung von Rabiah Hussain am Theater Heilbronn | Foto (C) Björn Klein

Bewertung:    



Absprung (Originaltitel: Spun) von Rabiah Hussain wurde vor knapp fünf Jahren in London uraufgeführt. Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Cornelia Enger besitzt Henschel, einer der führenden Theaterverlage im Land. Obwohl das Stück schon 2020 den Deutschen Jugendtheaterpreis erhalten hat, hat keine von den großen Bühnen daran Interesse gezeigt. Jetzt fand die deutschsprachige Erstaufführung in Heilbronn statt, bei dessen Namen man eher „Käthchen“ assoziiert als Theater. Und zwar in der kleinen Nebenspielstätte für Junges Theater mit der Bezeichnung „Boxx“.

Was soll man eigentlich unter Jugendtheater verstehen? Ein Stück, dessen Protagonisten Jugendliche sind? Ein Stück, das Probleme von Jugendlichen zum Thema hat? Wäre also Wedekinds Frühlings Erwachen oder Ferdinand Bruckners Krankheit der Jugend Jugendtheater? Oder soll man darunter Theater verstehen, das dem Erfahrungs- und Verständnishorizont von Jugendlichen entspricht, denen, was leicht vergessen wird, beim täglichen Fernsehkonsum und im Internet nichts vorenthalten bleibt. Absprung wird für Zuschauer ab 14 Jahren empfohlen. In der Schule liest man mit 14 Wilhelm Tell, Götz von Berlichingen, Faust, auch die Dramen von Dürrenmatt. Offenbar gibt es also keine Trennungslinie zwischen Jugend- und Erwachsenentheater, die zum Kindertheater immerhin bestehen mag. Das gilt in beiden Richtungen. Absprung ist für ein volljähriges Publikum nicht weniger geeignet als für Jugendliche. Ein Deutscher Jugendtheaterpreis führt ebenso in die Irre, wie es ein Frauentheaterpreis oder ein Migrantentheaterpreis täte.

*

Das Personal von Absprung besteht aus Safa und Aisha, zwei 21jährigen Londonerinnen pakistanischer Abstammung. Wer partout jeden Text im Hier und Jetzt lokalisieren will, könnte aus ihnen Heilbronnerinnen türkischer Abstammung machen, aber das wäre ebenso kindisch wie überflüssig. In Heilbronn hält man sein Publikum für intelligent genug, diese Übertragung selbst zu bewältigen, wie Shakespeare seinem Publikum zugetraut hat, die Geschehnisse um Richard III. aus dem 15. Jahrhundert in seine Gegenwart mehr als hundert Jahre danach zu transferieren. Wilhelm Tell musste sogar fünf Jahrhunderte überwinden, um seine Aktualität zu beweisen. Schiller, und nicht nur er, kannte noch die Aussagekraft der Analogie und nicht bloß den Mief des Vertrauten.

Gespielt wird auf einer leeren schwarzen Bühne mit einem großen, halbkreisförmigen Graben (Ausstattung: Beate Fassnacht), dessen Ränder den beiden Darstellerinnen bis zu den Hüften reichen und in dem die während des Abends ständig ausgetauschten Kostüme angehäuft liegen.

Safa und Aisha begegnen dem alltäglichen Rassismus. Ein Stichwort ist, nicht anders als in Deutschland, „Kopftuch“. Einem Mädchen wurde es durch Skinheads vom Kopf gerissen. Für die seit ihrer Kindheit engen Freundinnen stellen sich verschiedene Fragen, etwa nach Schuld, Mitschuld und wie man darauf reagieren soll. Sie gehen entgegengesetzte Wege. Aisha beschließt, demonstrativ ein Kopftuch zu tragen. Safa findet das „scheiße“. Aishah hat sich, nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Gefühle ihrer Eltern, für ihre Identität entschieden, Safa für die Anpassung, die gepriesene oder geforderte, aber, wie man etwa in New York beobachten kann, nur begrenzt erfolgreiche Assimilation, die den Schlüssel zur Karriere bereitstellen soll. Tatsache oder Illusion? Die Erfahrungswirklichkeit liefert für beide Thesen Belege, vom gegenwärtigen Londoner Bürgermeister bis zu den Kindern „mit Migrationshintergrund“, die im Londoner wie im deutschen Milieu, so assimiliert sie sein mögen, nachweislich diskriminiert werden, bei der Wohnungssuche, bei der Jobsuche, bei der Vergabe von Chancen.

Der Epilog geht so:


„SAFA: Wusstest du eigentlich, dass die meisten Leute dort sterben, wo sie aufgewachsen sind? Echt gruselig, oder?
AISHA: Wieso?
SAFA: Weil auf unseren Geburtsurkunden und Sterbeurkunden dasselbe stehen wird.
AISHA: Was wird da stehen?
SAFA: London.
AISHA: Nein. Da wird nicht London stehen.
SAFA: Sondern?
AISHA: Newham.“



Hier [s.o.] wäre vielleicht eine Erläuterung nötig: Newham ist der Londoner Stadtteil, in dem besonders viele Immigranten, der Großteil aus Asien, leben.

Absprung verzichtet auf Aktion. Das Stück lebt von den Dialogen, die sparsam von parallel, in schnellem Wechsel geführten Monologen unterbrochen werden. Alles steht und fällt mit den zwei Schauspielerinnen. Cosima Fischlein und Nora Rebecca Wolff, beide Jahrgang 1996 und Mitglieder des eigenständigen vierköpfigen Ensembles des Jungen Theaters, machen ihre Sache hervorragend. An einer Stelle sagt Aisha zu Safa: „Kannst du auch normal reden?“ Die beiden Londonerinnen sprechen, auch in der vorzüglichen Übersetzung von Cornelia Enger und der Regie von Elias Perrig, „normal“. Kurze Zitate geben Fischlein und Wolff Gelegenheit für Komik, die aber nicht ausgereizt wird. Den Platz an der Rampe macht ihnen sowieso niemand streitig.

Für Heilbronn gilt dasselbe wie für das fast exakt gleich große Pforzheim: Es liegt jenseits der Trampelpfade der überregionalen Kritik und erst recht der Scouts des Berliner Theatertreffens. Der Heilbronner Absprung könnte sich, ohne zu erröten, an jedem Theater, nicht nur jedem Jugendtheater, der Republik sehen lassen. Wer aber verbreitet diese Einsicht?



Absprung von Rabiah Hussain am Theater Heilbronn | Foto (C) Björn Klein

Thomas Rothschild - 16. April 2023
ID 14149
ABSPRUNG (Theater Heilbronn, 15.04.2023)
von Rabiah Hussain

Regie: Elias Perrig
Ausstattung: Beate Fassnacht
Dramaturgie: Nicole Buhr
Theaterpädagogik: Simone Endres
Mit. Cosima Fischlein (als Safa) und Nora Rebecca Wolff (als Aisha)
DSE war am 15. April 2023.
Weitere Termine: 19.-21., 25., 26.04./ 15.-17.05./ 15., 16.06./ 11., 12.07.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-heilbronn.de


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