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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Im Chor

der Ankläger



Angst am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Bewertung:    



Die Drehbühne neigt sich im Stückverlauf beunruhigend abschüssig zum Publikum hin. Auf der schrägen Spielfläche geraten auch bald die Gedanken merklich in Schieflage. Acht Figuren lassen in rhythmisch stakkatoartig gesprochene Textflächen lauernde Aggressionen erkennen. Diese Unzufriedenen suchen eine Projektionsfläche für ihre ufernde Wut. Lauter werdender Zorn bis hin zu blanker Gewaltbereitschaft schaffen ein verbindendes Wir-Gefühl. Doch wer sind die Schuldigen für die Missstände? Politiker, die sich mehr für ihre Macht und ihre Karriere interessieren als für ihre Bürger? Geflüchtete, die den ohnehin sozial benachteiligten Bürgern Arbeitsplätze wegnehmen könnten? Die behände im Stückverlauf agierenden Darsteller scheinen auf der geneigten Bühnenplatte alsbald auf Sicherungen angewiesen.

Fortwährend wechseln gegenwärtige Anschuldigungen mit Erzählungen von der Hexenverfolgung in Bonn und Rheinbach Anfang des 17. Jahrhunderts. Sophie Basse, die später auf kölsch eine frohgemut-diensteifrige Henkerin verkörpert, verteilt schon einmal geflissentlich den Hexenhammer (1486), ambitioniertes Werk eines deutschen Dominikaners, das die Hexenverfolgung legitimierte und wesentlich beförderte. Auch aus einer sogenannten Hexenzeitung wird vorgelesen. Die Schauspieler halten dabei Ausgaben des „Express“ oder der „Bild“ in ihren Händen. Da steht plötzlich die Frage im Raum, ob auch Burka-Trägerinnen Masken tragen und ob man zum Maskenball auch die Gasmaske braucht. Die Darsteller zelebrieren später eine illustre Hexenorgie in Nacktanzügen inmitten vielfarbig beleuchteten Theaterrauchs. Dann werden Videobeiträge von Opfern rechter Gewalt projiziert. Hier kommen unter anderem eine Jüdin, eine junge Muslima, ein queerer Aktivist, ein Bürgermeister, der ein Attentat überlebte, und die Parteivorsitzende der Linken, Janine Wissler, zu Wort. Für seine Inszenierung befragte Volker Lösch im Vorfeld auch Bonner Bürger zu eigenen Ängsten, die teils textlich vorgetragen werden.

Der diffuse Anspielungsreichtum ist eingebettet in ein komplexes Oberthema. Angst ist eine Emotion bei Menschen und Tieren, die in ihrer Warnfunktion und physiologischen Steuerung sinnvoll ist. Wie auch bei allen anderen Gefühlen ist es bei Angst und Aggression aber ganz besonders problematisch, wenn diese in Situationen entstehen, in denen sie eigentlich nicht passend sind. Dann können diese Gefühle zu Handlungen führen, die im Resultat die Ausgangssituationen verschlimmern. Es ist also ein komplexes emotional-kognitives Verhalten, das Löschs Inszenierung von Angst beleuchtet. Es scheint, dass ein Gefühl, nämlich Angst, herhalten muss für alle möglichen Missstände.

Angst führt zu einer starken Aktivierung des Teils des Nervensystems, das eine Fluchtreaktion begünstigt, das heißt Herzfrequenzerhöhung, Schwitzen, intensivere Durchblutung der Skelettmuskulatur. Heruntergefahren werden aber dabei Funktionen wie die Analyse-, Assoziationsfähigkeit und lösungsorientiertes Denken. Dieser Wirkung der Angst ist das Stück selbst leider zu sehr unterlegen. Es werden diffuse Zusammenhänge hergestellt, die einer inhaltlich genaueren Zuordnung bedürfen. Nahtlos wird eine Affektbrücke konstruiert von der Hexenverfolgung zu esoterischen Impfgegnern, der rechtsterroristischen Mordserie der NSU und den blutigen Verschwörungsmythen der QAnon-Anhänger, anstelle einer tieferen inhaltlichen Auseinandersetzung.

Die peinliche Befragung einer als Hexe verdächtigten, aus der Eifel nach Rheinbach zugewanderten Magd (Linda Belinda Podszus), wird mit Verweisen auf die Jetztzeit gebrochen. „Meine Zielgruppe ist der Mensch“, erklärt einer der Darsteller und spielt damit auf eine Rede des Verschwörungsmystikers Ken Jebsen an. Eine Reichsflagge wird gezückt, und das Grundgesetz wird in einem Freudschen Versprecher spontan zum Grunzgesetz. Sandrine Zenner postuliert in einem Monolog das völkisch orientierte Selbstverständnis einer identitären Jugendbewegung. Daniel Stocks Figur möchte in einem Frontalvortrag ganze Kontinente – unter anderem Afrika und den Nahen Osten – untergehen sehen. Bald werden die Mären auf die Spitze getrieben. Groteske Verschwörungsmythen über „Fledermäuse essende Schlitzaugen“ oder Erzählungen über die Bereicherung von Bill und Melinda Gates am als Impfstoff getarnten Unfruchtbarkeitsserum bahnen sich an. Mal meint ein Sprecher gar: „Ich habe Angela Merkel eingeschleust. Eigentlich steht dahinter Benjamin Netanjahu.“

Der Ausspruch "Angst ist ein schlechter Ratgeber" erscheint recht zutreffend, denn die Angst rät eigentlich nur zur Flucht. Das in der Inszenierung vorgeführte Problem ist aber vor allem eines der Aggression. Angst und Aggression sind aber logischerweise nicht dasselbe. Aggression kann eine Folge von Angst sein, muss es aber nicht. Angst erleben die Opfer von Aggression. Wenn es aber um die Ängste geht, die andere Menschen zu Tätern werden lässt, dann sollten auch die entsprechenden Umstände und Zusammenhänge etwas mehr beleuchtet werden. Es ist zu kurz gegriffen, die Ängste von Menschen vor Zuwanderung vor allem als Resultat von Manipulation zu sehen. Volker Lösch wuchs in einem kosmopolitischen Lebensumfeld auf, Kindheit im uruguayischen Montevideo, weltweite Reisen schon in der Jugend, freie Auswahl seines Studiums. Dies ist nicht die Lebenssituation von Menschen, die in prekären Beschäftigungs- und Wohnverhältnissen leben, jenen Bereichen, in denen die Zuwanderung eben stattfindet.

Zudem gab es bei der Hexenverfolgung auch andere Motive als Angst. Ankläger wollten sich etwa gezielt bereichern. Das Problem ist also nicht eine Emotion, die es schon immer gab, sondern es sind die Kognitionen, also unsere Gedanken, die damals (wie leider auch heute) im großen Projekt der Aufklärung nicht ganz mitkommen.

Leider bleiben Ängste in der Vorführung recht abstrakt und werden oft auch zu wenig ernst genommen. Mutiger wäre es vielleicht auch gewesen, der realen Angst einer alteingesessenen Seniorin in einem sozialen Brennpunkt-Stadtteil Ausdruck zu geben, die sich heute dort mit ihrem Rollator nicht mehr auf die Straße getraut. Auch Ängste einer 15jährigen Bonner Muslima davor, dass sie bald verheiratet wird, oder die Angst eines schwulen Türken in seiner Familie in unserer vermeintlich liberalen Gesellschaft werden nicht prononciert. Vielleicht bleibt ja Volker Lösch dem Bonner Theater als Gastautor erhalten und findet bald den Mut, auch solche Schicksale zu beleuchten. Immerhin wird in der Bonner Uraufführung nicht gleich auch noch eine „German Angst“ im Selbstanklageduktus denunziert.



Angst am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Ansgar Skoda - 7. November 2021
ID 13275
ANGST (Schauspielhaus, 06.11.2021)
Inszenierung: Volker Lösch
Bühne: Valentin Baumeister
Kostüme: Teresa Grosser
Licht: Max Karbe
Dramaturgie: Nadja Groß, Lothar Kittstein und Ulf Schmidt
Mit: Sophie Basse, Lena Geyer, Linda Belinda Podszus, Lydia Stäubli, Sandrine Zenner, Markus J. Bachmann, David Hugo Schmitz und Daniel Stock
Premiere am Theater Bonn: 6. November 2021.
Weitere Termine: 10., 23.11.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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