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Schein
als Sein
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Annika Schilling als Anna Karenina am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Graf Wronskis (Christian Czeremnych) schöne hellblaue Augen glänzen, wenn er an Anna Karenina denkt. Anna Karenina (Annika Schilling) strahlt zu Anfang gewinnend, verrucht, geheimnisvoll. Auch Kitty (Linda Belinda Podzsus) hat dieses hoffnungsvolle Leuchten in den Augen; ihr Blick ist erwartungsvoll, sehnsüchtig. Die Gesichter der jungen Ensemblemitglieder am Theater Bonn taugen auch für die große Leinwand. Das dachte sich zumindest Regisseurin Luise Voigt, die Lew Tolstois 454seitigen Klassiker von 1878 am Schauspielhaus mit Live-Großaufnahmen neu adaptiert.
Maria Strauchs Bühnenbild besteht aus drei meterhohen, beweglichen Elementen mit weißen Fadenvorhängen, auf die Live-Aufnahmen projiziert werden. Anfangs agieren die Figuren im Halbdunkeln vor den aufgestellten Elementen, auf die ihre Blicke geworfen werden. Zwei Live-Kameras fangen unterschiedliche Bühnenwinkel auf den Fadenvorhängen ein. Die Darsteller justieren regelmäßig die Stative der Kameras neu, insbesondere wenn sie die Wandelemente verschieben. Sie bilden aus ihnen mal ein Dreieck, in dessen Mitte sie agieren. Die im Innenraum gespielte Szene wird dann auf die Außenwände projiziert. Es gibt von Anfang an viele Auf- und Abgänge durch Seiteneintritte oder durch die Fadenvorhänge. Alles erscheint im Fluss. Die Darsteller rennen ausgelassen um die Wandelemente herum. Später diskutiert die Titelheldin latent aggressiv mit ihrem Ehegatten die Ausrichtung der flexiblen Elemente.
Live-Aufnahmen werden von Anfang an durch Einspieler mit lichtdurchfluteten Landschaftsszenen (Video: Stefan Bischoff) ergänzt. Während der Dialoge zeigen Großaufnahmen die Sprecher. Zeitgleich sehen wir sie auf dem Bewegtbild im Bühnenzentrum schwimmend in einem See, beim Mähdreschen auf einem Kornfeld oder beim Gang über Bahngleise. Hier versucht Luise Voigt die Figuren in einem größeren Zusammenhang zu stellen, indem das Lebensfeld und Annäherungen zwischen ihnen visuell angedeutet werden. Die über das aktuelle Geschehen hinausweisenden Einblendungen korrespondieren hierbei oft gut mit Toneinspielern. So werden neben der Dialogebene mitunter zeitgleich Gedanken der Figuren aus dem Off wiedergegeben. Manchmal harmonieren Filmbilder auch mit vor ihnen agierenden Darstellern effektvoll, wenn etwa Wronski beim Abtreten im Mund Annas verschwindet.
Die Handlung dreht sich um Treue, familiären Pflichten, Zweckehen und Liebessehnsüchte. Eingangs konfrontiert Fürstin Dolly (Lena Geyer) ihren Ehegatten Stiwa (Bernd Braun) mit einem außerehelichen Verhältnis. Er gesteht es ein und bittet um Vergebung. Sie gerät in Rage und tritt wütend ab. Später rät ihr Anna Karenina, Stiwas Schwester, ihm die Affäre zu verzeihen. Frauen war es in der adligen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nur schwer möglich, sich ohne gesellschaftliches Aufheben zu trennen.
Auch Anna ist eine Zweckehe mit ihrem Gatten, dem hohen Beamten Alexej (Daniel Stock), eingegangen. Sie hat mit ihm einen gemeinsamen Sohn, Serjoscha (Otto Koch). Sie scheint der ehelichen Pflichten müde und genießt es, als der schmucke Graf Wronski sie ein bisschen schlaksig, unbeholfen und provokant umgarnt. Bald gerät sie in einen Streit mit ihrem eifersüchtigen und aufgebrachten Ehemann. Schließlich gewährt er ihr schweren Herzens eine Affäre mit Wronski, entzieht ihr dafür aber Serjoscha. Anna gerät nun in einen Gewissenskonflikt. Möchte sie eine gute Mutter sein, oder mit dem Liebhaber eine neue Familie gründen? In eine Scheidung willigt Alexej aus religiösen Gründen nicht ein. Anna und Alexej keifen sich an. Wir erleben Anna kopflos liebessehnsüchtig mit heftigen Gefühlsschwankungen, auch Wronski gegenüber. Anna kehrt bald des Sohnes wegen zurück zu Alexej. Für Wronski macht das Leben fernab der Liebeserfüllung scheinbar keinen Sinn mehr. Doch sein halbherziger Suizidversuch misslingt.
Im Stückverlauf gibt es auch noch ein weiteres Paar mit Beziehungskonflikten. Offensichtlich hat Dollys Schwester Kitty mit dem Gutsbesitzer Kostja (Alois Reinhardt) keinen besonders feinfühligen Gatten gefunden. Sie haben unterschiedliche Lebens- und Liebesvorstellungen. Sie möchte sich ihm unterordnen, für ihn da sein. Er hingegen bittet sie, in die Stadt zu fahren, falls ihr langweilig sein sollte. Es wird die Einsamkeit Kittys in einer Ehe deutlich, in der ihr Gatte alleine entscheidet.
Insgesamt erscheint die Personenkonstellation recht unübersichtlich. Insbesondere die Bezüge zwischen den Figuren wirken diffus. Übertriebene Szenen verstärken den Eindruck allgemeiner Sinnentleertheit. Da gibt es eine belanglos wirkende Szene mit Anna und Wronski in Italien, in der viel Windgebläse die Haare der Akteure durcheinander wirbelt. In einer anderen Szene zittert und zuckt Kostja am ganzen Körper, ohne dass Beweggründe erkennbar werden. Wenn Alexej aus Wut über Anna ein Kleid in kleine Stofffetzen zerbeißt oder seine Fingerknochen und Wirbel krachend überdehnt, wirkt das reichlich albern. Gegen Ende schmückt sich Anna mit wuchtigen Ketten und Ringen, um in die Oper zu gehen. Jedes Anlegen eines Schmuckstücks wird durch laute Hallgeräusche künstlich verstärkt, als zöge sie in den Kampf. Tatsächlich erklärt sie kurz darauf sichtlich getroffen, sie sei beim Opernbesuch von einer Sitznachbarin angefeindet worden.
Die Wandlung Annas vom schillernden Auftreten im Lichte der Öffentlichkeit bis hin zu verzweifelten Suizidgedanken wird nicht deutlich. Fragen der Schuld und des Drucks der elitären, russischen Oberschicht werden zu wenig fokussiert. Was geschieht eigentlich mit der Tochter der Titelheldin, Annie? Luise Voigts Adaption belässt trotz schöner Bilder allzu vieles im Vagen.
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Anna Karenina am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Ansgar Skoda - 30. Oktober 2021 ID 13257
ANNA KARENINA (Schauspielhaus, 29.10.2021)
Inszenierung: Luise Voigt
Video: Stefan Bischoff
Bühne und Kostüme: Maria Strauch
Musik: Frederik Werth
Dramaturgie: Carmen Wolfram
Besetzung:
Stiwa ... Bernd Braun
Dolly ... Lena Geyer
Kitty … Linda Belinda Podszus
Kostja Lewin ... Alois Reinhardt
Alexej Karenin ... Daniel Stock
Anna Karenina ... Annika Schilling
Serjoscha ... Otto Koch
Wronski ... Christian Czeremnych
Premiere am Theater Bonn: 29. Oktober 2021
Weitere Termine: 31.10. / 07., 11., 24., 26.11.2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de
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