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Castorfopern (41)

Shakespeare

mit viel

Heiner Müller

und

Antonin Artaud

HAMLET von Frank Castorf


Frank Castorfs Hamlet am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Just Loomis

Bewertung:    




Shakespeares Tragödie Hamlet mit Heiner Müllers Kurzdrama Hamletmaschine zu verknüpfen, das hat in diesem Jahr bereits Regisseur Armin Petras versucht. Seine Inszenierung für das Staatstheater Cottbus war ein Rückblick auf die deutsch-deutsche Wendezeit mit rockiger Musik.

Nun verwendet auch Altmeister Frank Castorf den 1977 als Reflexion eines Intellektuellen in der DDR geschriebenen Text seines einstigen Volksbühnen-Hausheiligen, um ihn wie Müller selbst 1990 am Deutschen Theater in Verbindung mit Shakespeares Ursprungsdrama „die dunklen Flecken in der Geschichte der Väter“ sichtbar zu machen:


„Ein 'Geist' tritt auf, ist ihm zu trauen? Die Verworfenheit des aktuellen Herrschers ist offensichtlich - aber was sind die Konsequenzen? […] Wo wird Wahrheit gespeichert, wenn es keinen 'Geist' gibt?“


Das sind die Fragen, die nun die Produktion am Deutschen Schauspielhaus Hamburg aufwirft. Frank Castorf benötigt zur Beantwortung wie üblich etwas mehr als die vorab veranschlagten 6 Stunden inklusive einer Pause.

„Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“ Die Zeilen Müllers haben heute, da dieses Europa als Staatenverbund um eine neue geopolitische Ausrichtung ringt, wieder eine gewisse Aktualität. Europas Existenz steht dabei auf dem Spiel, egal wie sich die einzelnen politisch nicht immer einigen europäischen Machthaber entscheiden. In so einer Entscheidungszwickmühle befindet sich auch Shakespeares zaudernder Dänenprinz. Doch zunächst muss Jonathan Kempf den Müllertext des 1. Abschnitts der Hamletmaschine ganz allein auf der von Aleksandar Denić mit schwarzen Schaumstoffklötzen gefüllten Bühne bestreiten. Passend zur Wucht des Textes wirkt das noch recht statisch. Erst langsam tritt das restliche Ensemble auf und stimmt in die düstere Bestandsaufnahme Müllers zu Zeiten des kalten Kriegs ein.

Die Ruinen von Europa bestehen hier aus einer nur von hinten zu sehenden Reklametafel mit den windschiefen Buchstaben EUROPETM, die zwischen zwei alte Strommasten gehängt ist. Ein Militärbunker vervollkommnet das apokalyptische Bühnenbild. Wir haben es hier mit immer wiederkehrenden Toten in einem Krieg der Landschaften zu tun. Ein gängiges Motiv Müllers, dessen zusammen mit Matthias Langhoff entstandene Hamletübersetzung für Benno Besson gespielt wird. Das zieht sich drei Stunden bis zur Pause im Wechsel mit Müllers Texten aus der Hamletmaschine und Die Befreiung des Prometheus (gespielt von Paul Behren und Matti Krause) und dem düsteren Hydra-Text, in dem der Held Herakles durch einen lebenden Wald als Schlachtfeld irrt.

Castorfs kongenialer Hamletdarsteller ist nun Paul Behren, Matti Krause sein Freund Horatio, Lilith Stangenberg Ophelia, Josef Ostendorf Claudius und Angelika Richter Gertrud. Oft reden sie sich hier mit ihren richtigen Vornamen an, steigen aus den Rollen wie in der Hamletmaschine. Ein Kommentar zu Shakespeare wie zum Schauspiel selbst. Lange verweilen wir bei der Hochzeitsszene zum Beginn des Dramas, auch bei der Begegnung Hamlets und Horatios mit dem Geist von Hamlets Vater, den Ostendorf im Stuhl mit Atemmaske gibt. Mit etwas Helium quiekt Daniel Hoevels seinen Wächter und zerdehnt die Wörter bis zum ersten Buh und Szenenapplaus des Abends. Castorf provoziert die Nerven des Publikums weiter in den Tiefen unter der Bühne, wo Aleksandar Denić einen kompletten Atombunker mit Klapppritschen, Spinden und Abhöranlage eingerichtet hat. Das Geschehen inklusive Sein-oder-Nichtsein-Monolog werden via Livekamera auf eine Videoleinwand übertragen. Ein weiterer Fremdtext ist die Erzählung vom Hungertod des Grafen Ugolino und seiner Söhne in einem Verlies Pisas nebst Kannibalismus aus Dantes Inferno.

Auf Fernsehern hinter Bühne laufen Videobilder von der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956, der auch Thema in der Hamletmaschine ist. Wir hören von der Einsetzung Jánós Kàdárs durch die Sowjetunion und der Exhumierung des hingerichteten Ministerpräsidenten Emre Nagys 1989. 1990 die Verhaftung des an Krebs erkrankten Erich Honneckers. Ein Totentanz durch die Geschichte Europas mit dem neuen Deutschland als „sozialistische Totgeburt“. Kurz vor der Pause sitzt Paul Behren allein an der Rampe und bekommt ein Fischbrötchen serviert. Der sinnierende Hamlet („Was ist ihm Hekuba?“) ist sich seiner Gefühle und Handlungen zur Rache für seinen Vater nicht sicher.

Nach der Pause wird das zum Gag, wenn sich Behrens einfach ein anders Fischbrötchen bringen lässt. Mit Matti Krause gibt es einen kleinen sehr belustigenden Austausch von Castorf-Anekdoten aus seiner Zeit in Anklam oder bei der Inszenierung der Hamletmaschine 1989 in Köln. Der Regieseur wollte auch nur im Westen schnell Geld verdienen, berichtet Krause und haut noch ein paar weitere Klischees über Castorf raus wie „mehr Text für und Männer und weniger Klamotten für Frauen“. Eine Affäre mit Gabriele G. (gemeint ist die Schauspielerin und spätere Dramturgin Castorfs sowie Schwester von Gregor Gysi) hätte ihm das Engagement am DT verschafft. Überhaupt zieht das Tempo nach der Pause wieder etwas an, obwohl Castorf bei der ellenlangen Zerdehnung der Hamlethandlung mit dem Tod Polonius und der Auseinandersetzung Hamlets mit seiner Mutter weitermacht. Eine lange Lichtröhre wird hereingefahren. Alberta von Poelnitz und Linn Reusse bekommen noch als Rosenkranz und Güldenstern eine Lehrvorführung im Flötespielen, und die Elterngeneration steht unterm Lampenschirm mit Bildern von Lenin und Stalin. Claudius fährt mit der Raupe über die Bühne und hält das Ganze eh für Scheiße, während ihn Hamlet mit Westernhagens Song "Dicke" tracktiert.

Castorf fährt auch sonst popkulturell alles auf, was irgendwie passend scheint, wie etwa den Dachau Blues von Captain Beefheart oder Mädchen aus Mauthausen von Maria Farantouri. Es kommt aber nicht zu einem Ende des Dramas, das nach Heiner Müller eh nicht mehr stattfindet. Dafür herrscht nun ein anderer Theaterheiliger Castorfs. Antonin Artaud mit seinem Theater der Grausamkeit und dem Text Das Theater und die Pest. Wir hören von Fortinbras‘ Durchmarsch Richtung Polen und F16 über Kursk. Es geht um „Kacka“, Blut und Knochenschrott. Der Kühlschrank ist voll damit, und die „Mausefalle“ schnappt zu. Angelika Richter hat noch einen Monolog mit Müllers Gedanken zu Shakespeare. Da sind wir aber immer noch längst nicht im nächsten Akt, und das Personal in den fantastischen ständig wechselnden Kostümen von Adriana Braga Peretzki hat sich längst wieder in den Bunker zurückgezogen. Da am Ende eh alle tot sind, übernimmt Fortinbras als Chinese (Daniel Hoevels) gleich den ganzen Laden von Horatio. „Wir sind nicht angekommen, solange Shakespeare unsere Stücke schreibt.“ Heiner Müllers Fazit aus einem Jahrhundert im „Blutsumpf der Ideologien“.

Der Applaus des erleichterten Publikums kurz nach Mitternacht gilt hier vor allem dem Ensemble.



Frank Castorfs Hamlet am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Just Loomis

Stefan Bock - 5. Oktober 2025
ID 15497
HAMLET (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 03.10.2025)
aus dem Englischen von Heiner Müller, Mitarbeit Matthias Langhoff
unter Verwendung von Heiner Müllers Hamletmaschine

Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Lothar Baumgarte
Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink
Sounddesign: William Minke
Videodesign: Andreas Deinert
Live-Kamera: Andreas Deinert und Severin Renke
Live-Schnitt: Jens Crull und Maryvonne Riedelsheimer
Live-Cueing: Rebecca Dantas
Live-Tonangler: Michael Gentner und Jochen Laube
Dramaturgie: Ralf Fiedler
Mit: Paul Behren, Daniel Hoevels, Jonathan Kempf, Matti Krause, Josef Ostendorf, Alberta von Poelnitz, Olaf Rausch, Linn Reusse, Angelika Richter und Lilith Stangenberg [in alphabetischer Reihenfolge]
Die Premiere war am 3. Oktober 2025.
Weitere Termine: 05., 25.10./ 02., 11., 19.11.2025// 30.04.2026


Weitere Infos siehe auch: https://schauspielhaus.de/


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