"EINA schleeft!"
An der Berliner Volksbühne witzelt sich DIE CHOR gewaltig durch die Geschichte des kollektiven Ichs auf der Theaterbühne
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Bewertung:
Vom Kommentator im Hintergrund zum Protagonisten auf der „Vobü“ (Vorbühne), das ist der Traum von DIE CHOR, einem kollektiven Theater-Ich, das endlich die Hauptrolle spielen will. Verschiedene Stimmen in einem Kollektivkörper zu bündeln, der dann eine tragende Rolle übernimmt, klingt nach Philosophiediskurs, die der Diskurs-Vater der Theaterkiste und Volksbühnen-Intendant René Pollesch begonnen im Prater, der langjährigen Nebenspielstätte des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz, einst zur Perfektion geführt hat. Die drei ehemaligen P14-Aktivistinnen und Choristinnen in Pollesch-Stücken Hannah Dörr, Nele Stuhler und Irina Sulaver haben nun einen Text für einen 12stimmigen Frauen-Chor geschrieben, der jene Kollektivstimme DIE CHOR im gleichnamigen Stück spielt.
Da der Prater bekanntermaßen seit geraumer Zeit saniert wird, gibt es nun die sogenannten PRATER STUDIOS in der Volksbühne, wofür Nina von Mechow und Leonard Neumann einen langen Steg durch den Saal gelegt haben, was die Anzahl der zu belegenden Plätze reduziert. Leonard Neumann hat die Vorderbühne mit Vorhängen und Videowand gestaltet, wo nun dieses Wir oder Ich, da ist sich DIE CHOR zunächst noch nicht ganz sicher, beim zögerlichen Auftritt und Vorhangaufziehen gleichmal mit einer fröhlichen Powerpointprojektion in die Historie des Chors einführt. Der Chor, was bisher geschah, sozusagen. Der oder die war ja immer schon da. Also eigentlich auch nie weg. Dazu gibt’s Bilder aus der Antike oder als Engelschor in Michelangelos Fresko Die Erschaffung des Adam. Der Chor auf den Barrikaden der Französischen Revolution, beim Kieler Matrosenaufstand oder als Wende-Volk in der Gegenwart. Bis man bei Theaterbildern von Pollesch-Chören in Inszenierungen mit Sophie Rois und Fabian Hinrich anlangt. Aber auch einem anderen großen Chor-Arrangeur wird hier gehuldigt. Einar Schleef, der im Text als Running Gag „EINA“ das Solo-Gegenstück zum „DIE CHOR“-Kollektiv bildet. Was irgendwann im Kalauer „EINA schleeft!“ gipfelt.
Sichtlich Spaß haben die 12 Choristinnen in ihren vielfarbigen Morgenmänteln (Kostüme: Svenja Gassen), die an frühere Chorauftritte in der Volksbühne erinnern. Darunter tragen die Frauen aber eine Art Cowgirl-Outfit mit Stiefeln und Cowboy-Chaps, zu denen sie dann auch noch Cowboyhüte aufsetzen. Es soll ein Western gedreht werden, wozu ein Teil des Chors immer ins Foyer in eine Film-Kulisse rennt, was per Live-Kamera auf die Bühnenrückwand übertragen wird. Der Lonesome Rider als Gegenstück zum wuseligen Kollektivkörper der sich immer wieder selbst Mut zuspricht. „Alles super!“ Auch rockigen Live-Sound spielen die Cowgirls im Oberparkett und auf der Bühne mit den Diskursen wie mit Lassos. Es geht um den Sinn der Schleef-Chöre in dessen Faust-Inszenierung oder den Seemannschor in Wagners Fliegendem Holländer. Das erinnert schon sehr stark an die Stücke des jetzigen Hausherrn, wenn es im Text um das Individuum EINA und das Kollektiv DIE CHOR geht, dass sich bei einem Schnupfen auch mal aufspalten und hier und zu Hause ein kann. Und wo kollektiv Kekse gebacken werden, muss auch nicht immer nur ein Name auf der Verpackung stehen.
Das sind lustige Seitenhiebe auf den egomanen Theaterbetrieb, mit seinen Regie-Königen. Doch wo viele Kekse gegessen werden, fallen auch ein paar Krümel ab. Womit wir bei der Honorierung des ganzen Treibens sind. Wenn sich ein Chor-Teil in den Vordergrund schiebt, muss ein anderer wieder den rahmenden Hintergrund geben. Da kommt es noch zum kleinen Showdown zwischen der neuen chorischen Vobü-Protagonistin und einem weitaus größeren Background-Chor. Den gibt hier ganz fantastisch der Mädchenchor Canta Chiara des Berliner Händel-Gymnasiums, der ganz spährisch Popsongs wie Let me be your hero von Enrique Iglesias und Survivor von Destiny's Child singt.
In einer abschließenden chorisch vom Blatt gelesenen ironischen Selbstreflexion „Ich hätte das alles anders machen sollen“ spielt DIE CHOR nochmal mit kleinen Selbstzweifeln. Tun! Leiden! Lernen! hieß das früher mal. Nun ist alles super und das kollektive Chor-Ich unsterblich. Wenn DIE CHOR sich da mal nicht irrt. Über 90 Minuten wirkt das alles eher wie eine weitere kleine Fingerübung und lockere Selbstermächtigung des agilen Theater-Nachwuchses auf großer Bühne, der damit aber auch nur im Kielwasser des in letzter Zeit leider etwas leckgeschlagenen Volksbühnen-Tankers schwimmt.
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DIE CHOR in den PRATER STUDIOS am Rosa-Luxemburg-Platz | Foto (C) Ackermann/Simonow/Kahn
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Stefan Bock - 25. März 2023 ID 14116
DIE CHOR (Prater Studios, 22.03.2023)
Regie: Hannah Dörr, Nele Stuhler und Irina Sulaver
Text: Nele Stuhler und Die Chor
Bühne: Leonard Neumann
PRATER STUDIOS: Nina von Mechow und Leonard Neumann
Kostüme: Svenja Gassen
Video: Hannah Dörr
Licht: Frank Novak
Arrangement Gesangschor: Maika Küster
Musikalische Leitung: Rahel Hutter
Chorleitung: Christine Groß
Dramaturgie: Johanna Kobusch
Mit: Nehle Breer, Lisa Hrdina, Rahel Hutter, Marie Jordan, Carolin Knab, Johanna Link, Hannah Müller, Thea Rasche, Birte Schnöink, Kara Schröder, Lou Strenger und Irina Sulaver sowie dem Gesangschor Canta Chiara
UA an der Volksbühne Berlin: 22. März 2023
Weitere Termine: 30.03. / 14., 23.04.2023
Koproduktion von Dörr/Stuhler/Sulaver und der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin
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