Als True-Crime-TV-Show
DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM an der Vagantenbühne Berlin
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Bewertung:
Wer kennt sie nicht, die Zeitung mit den vier Buchstaben? Heinrich Böll betitelte sie in seiner 1974 erschienenen Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum einfach „Die ZEITUNG“. Er hatte sie in einer Art vorgesetztem Disclaimer aber auch konkret namentlich benannt. „Sollten sich bei den Schilderungen gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der ,Bild‘-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“ Eine provokante Abrechnung des späteren Nobelpreisträgers mit der deutschen Springer-Presse und ihres für „Qualitätsjournalismus“ nicht unbedingt bekannten, aber für seine tendenziell reißerische und diffamierende Berichterstattung berüchtigten Leit- oder besser Hetzblatts. An den Praktiken dieses am Massengeschmack ausgerichteten Boulevard-Journalismus hat sich bis heute nicht sehr viel geändert.
Selbst in die Schlagzeilen kam die Bild 2021 wegen der Vorwürfe gegen ihren damaligen Chefredakteur Julian Reichelt bezüglich des Machtmissbrauchs und der Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen gegenüber jungen Mitarbeiterinnen. Auch in der Hinsicht trifft Bölls nüchterner aber sehr konkreter Bericht aus den 1970er Jahren über die systematisch betriebene Ehr-Vernichtung der in Verdacht geratenen jungen Haushälterin Katharina Blum, einem Mörder und Bankräuber zur Flucht verholfen zu haben, durch eine die Fakten verzerrende Berichterstattung jener ZEITUNG den Nagel immer noch auf den Kopf. Nicht nur aus unserer heutigen Sicht wirkt die stark misogyne Behandlung der Katharina Blum durch die Presse und die verhörende Polizei erschütternd.
Bekannt dürfte auch die Verfilmung der Erzählung durch Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta aus dem Jahr 1975 mit Angela Winkler in der Titelrolle sein. Auf die Bühne geschafft hat es der Prosatext Bölls aber auch hier und da. Aktuell in einer Inszenierung der Regisseurin Kathrin Mayr an der Berliner Vagantenbühne, der eine durchaus interessante Fassung von Autor Clemens Mädge zu Grunde liegt. Katharina Blum trifft hier dreißig Jahre später in einer Art TV-Show auf zwei Journalisten, die den alten Fall nochmal faktengerecht aufrollen wollen. Dass die damals bereits durch die Presse-Hölle gegangene Frau hier Gefahr läuft, ein weiteres Mal gedemütigt zu werden, dämmert einem schon zu Beginn, wenn die Schauspieler Daniel-František Kamen und Nils Malten nach einem akustischen Intro-Rauschen im Blätterwald zu ihrer Anmoderation die Bühne betreten und von Tatsachen und Qualitätsjournalismus sprechen. Vorbild sind da eher True-Crime-Dokus aus dem Privat-Fernsehen. Aber auch die Öffentlich-Rechtlichen Sender bedienen sich bereits solcher Formate.
Die Verlegung der Handlung in eine solche TV-Show, in der sich die nun dreißig Jahre ältere Katharina Blum den Fragen der beiden Journalisten stellt, lässt die Vergangenheit mit der Gegenwart kollidieren und sorgt so für Aktualität. Der alte Fall aus der Zeit des deutschen Herbstes, in der eine extreme Linke auch mit terroristischen Mitteln den bürgerlichen Staat und seine Institutionen herausforderte, ließe sich so aus heutiger Sicht neu bewerten. Bölls Beispiel, der durch Polizei und Boulevardpresse in die Enge getriebenen Frau, die am Ende den Zeitungs-Journalisten Tötges erschießt, liefert ein sehr genaues Bild jener Zeit, in der durch Panik machende Berichte linksliberale Kreise denunziert wurden und Katharina Blum Opfer einer beispiellosen Hetzkampagne wird.
Magdalene Artelt tritt als Katharina Blum recht selbstbewusst auf, wird aber auch hier durch die drängenden, sehr persönlichen Fragen der Männer immer wieder genötigt sich zu rechtfertigen. Zuweilen treten die Journalisten sogar auf wie in einem Verhör auf, ziehen die Jacketts aus und krempeln die Ärmel hoch. Hier verschmilzt förmlich das TV-Interview mit den Szenen aus der Erzählung, was die Spannung zusätzlich hebt. Auch jetzt muss sich Katharina Blum gegen falsche Wortwahl zur Wehr setzen. Bezeichnend dafür ist die Passage aus der Erzählung, in der sie den verhörenden Polizisten den Unterschied zwischen Zärtlichkeit und Zudringlichkeit erklären muss.
Sind die beiden Journalisten doch stark als chauvinistische Typen überzeichnet, findet die Inszenierung ihren Ruhepol in der in einigen Monologen eindringlich um ihre Würde kämpfenden Frau, die nur aufgrund der verletzenden Zeitungsberichte und daraus folgenden Erniedrigungen durch anonyme Anrufe und Briefe zur Mörderin wird. Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann heißt Bölls Erzählung im Untertitel. Auch ihr damaliger Unterstützer, der Rechtsanwalt Dr. Blorna (Nils Malten), kommt zu Wort. Es geht viel um Intimes aus dem Leben der Katharina Blum, vor allem um ihre sogenannten „Herrenbesuche“. Dazu werden die Schlagzeilen der ZEITUNG auf die Bühnenrückwand projiziert. So etwas lässt sich heute auch noch recht gut in Shitstorms über Frauen in der Öffentlichkeit beobachten. Die Saat der Boulevardpresse geht auf in den Internetkommentaren. Kathrin Mayrs Bühnenbild mit senkrecht herabhängenden Stableuchten wirkt wie ein Labyrinth oder Käfig, in dem die Akteure gefangen sind und sich belauern. Ein Bild das am Ende ins Wanken gerät.
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Die verlorene Ehre der Katharina Blum an der Vaganten Bühne in Berlin | Foto (C) Nils Wehr
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Stefan Bock - 16. Februar 2023 ID 14049
DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM (Vagantenbühne, 14.02.2023)
nach Heinrich Böll
Regie: Kathrin Mayr
Fassung: Clemens Mädge
Bühne: Kathrin Mayr und Amelie Müller
Kostüm: Amelie Müller
Dramaturgie: Fabienne Dür
Sound: Clemens Mädge
Mit: Magdalene Artelt, Daniel-František Kamen und Nils Malten
Premiere war am 14. Februar 2023.
Weitere Termine: 16., 17.02./ 02.-04.03./ 11., 12.04.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.vaganten.de/
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