Das Recht des
Stärkeren
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Zerbombt am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Die Szenerie ist ein Hotelzimmer. Hinter einer milchigen Lamellenwand verbirgt sich links ein Doppelbett. Einige Szenen und explizite Handlungen der Stückvorlage werden so für Zuschauer nur angedeutet. Die dunkle Bühnentapete rechts zeigt melonenartige Früchte, von denen eine im Zentrum mehrfach aufgeplatzt ist und helle Flüssigkeitsblasen preisgibt. Dieses wiederholt angeleuchtete Bild schafft bald Assoziationen zu Bomben und Explosionen. Ganz rechts ist auf der Bühne eine Badewanne mit goldfarbenen Wasserhahn platziert. Hier können sich die Figuren reinigen oder vor anderen die Blöße geben.
Die Kostüme, denen sich die Darsteller in einigen Szenen entledigen, wecken Assoziationen. Als erstes durchstreift ein fröhlich-lässiges Girlie neugierig den Raum. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „SAD BOYS“ und einen weinenden, wuchtigen männlichen Comic-Kopf, der an Frankensteins Monster erinnert (Bühne und Kostüme: Maximilian Schwidlinski). Steht hier eine Frau (Julia Kathinka Philippi) auf dominante und zugleich weiche Kerle, die auch traurig sein dürfen? Cate wird sogleich von ihrer männlichen Verabredung (Sören Wunderlich) attackiert. Er macht sie aggressiv herunter, sie sehe lesbisch aus.
Ian und Cate hatten mal vor einiger Zeit etwas miteinander. Der schmierige Boulevardjournalist ist todkrank und sehnt sich nach der jungen Schönheit, begegnet ihr jedoch zunächst gefühlskalt. Sie tänzelt aufgekratzt herum und bekundet ihr Mitleid für seine Situation. Ian klopft schwer atmend und wiederholt hustend zynische, homofeindliche, vulgäre und rassistische Sprüche. Die drastische Sprache bricht mit gesellschaftlichen Tabus und Konventionen. Cate erklärt ihm naiv und trotzig-kindlich, dass seine Sprüche asozial seien. Sie fängt dabei jedoch wiederholt an zu stottern. Ian beleidigt sie schroff, indem er ihr dies als Schwäche auslegt. So setzt er sie noch mehr unter Druck. Bald zückt Ian eine Waffe und schließt den Raum hinter ihr ab. Er wünscht sich Sex. Bald wird Cate ohnmächtig und bricht zusammen. Er besteigt sie. Nachdem Cate wieder zu Bewusstsein gekommen ist, erzählt Ian ihr davon, dass er glaubt verfolgt zu werden. Die desillusionierte Grundstimmung des Kammerstückes weicht einem düsteren, paranoiden Szenario.
Denn nachdem Cate wieder aufgestanden und die Bühne verlassen hat, tritt als nächstes ein Soldat (Christian Czeremnych) in camouflage-farbigem Anzug und mit Maschinengewehr ins Geschehen, der bald den Bühnenraum und auch Ian dominiert. Er erzählt ihm von seinen Gräueltaten und prahlt damit, zahllose unschuldige Menschen getötet zu haben. Gleichzeitig wird er traurig und melancholisch, wenn er von seiner großen Liebe erzählt, die selbst Opfer des Krieges wurde. Bald zwingt der Soldat den verängstigten Ian zum Sex. Der Soldat reißt Ian nach der Triebbefriedigung die Augen aus und erschießt sich schließlich selbst.
Akteur Christian Czeremnychs zuvor schulterlangen Haare wurden hier raspelkurz frisiert. Wer ihn als Graf Wronski in Anna Karenina gesehen hat, erkennt ihn als Soldaten nicht wieder. Er agiert mit beängstigend raumgreifender und kontrollierter Physis, wenn er sadistische Umbrüche im Spiel des Soldaten andeutet. Auch die Umschwünge im Spiel von Sören Wunderlich und Julia Kathinka Philippi sind bemerkenswert, wenn beide Stimmungsschwankungen andeuten, weil ihre Figuren die Kontrolle verlieren. Schreie deuten Wut oder Ängste aufgrund extremer Spannungen zwischen den Figuren an.
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Charlotte Sprengers Bonner Inszenierung gerät zunehmend surreal. Das Dreipersonenstück, das physische und psychische Gewalt explizit darstellt, verstört durch Musikeinspieler wie Rolf Zuckowskis „Ich schaffe das ganz alleine" mit Kinderstimme und einem melancholischen Instrumentalstück aus Moon Safari von Air. Am Ende brechen Sprenger und Dramaturg Jens Groß (zugleich auch Schauspieldirektor am Theater Bonn) die Theaterillusion bewusst auf, wenn der totgeglaubte Soldat aufsteht, den Boden staubsaugt und Brote isst. Hier hat die Vorführung leichte Längen. Eine gekonnte Dreier-Choreographie zu „It’s oh so quiet“ von Björk schafft dann sogar ein versöhnliches Ende abseits aller zuvor gezeigten Düsternis, aber auch fernab der Vorlage.
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Zerbombt am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Sarah Kane schrieb ihr Dramendebüt als 24-Jährige unter dem Eindruck der Balkankriege. Die Dramatikerin und Regisseurin wollte Verzweiflung aufzeigen, die durch seelische Isolation entsteht und aufgrund der sich Menschen extreme Brutalität antun. Die unter Depressionen leidende Britin erhängte sich vier Jahre später in einer psychiatrischen Klinik. In Zerbombt werden soziale Wertvorstellungen aufgelöst und gesellschaftliche Grundwerte mit Füßen getreten.
Der Krieg ist heute auch hierzulande zurück in den Köpfen. Gewaltsame Unterdrückung mit Kampfhandlungen bestimmen die Nachrichten; ob nun der völkerrechtswidrige Einfall Russlands in der Ukraine, brutal niedergeschlagene regimekritische Proteste im Iran oder der grausame Militärputsch im südostasiatischen Myanmar. Aufgrund der gegenwärtigen Entwicklungen ist es so topaktuell, dass das Theater Bonn das 1995 in London uraufgeführte Skandalstück in einer eindringlichen und verstörenden Inszenierung auf den Spielplan setzt.
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Ansgar Skoda - 30. Oktober 2022 ID 13880
ZERBOMBT (Werkstatt, 27.10.2022)
Regie: Charlotte Sprenger
Bühne und Kostüme: Maximilian Schwidlinski
Licht: Ewa Górecki
Dramaturgie: Jens Groß
Besetzung:
Ian ... Sören Wunderlich
Soldat ... Christian Czeremnych
Kate ... Julia Kathinka Philippi
DEA am Deutschen Schauspielhaus Hamburg: 26. September 1996
Premiere am Theater Bonn: 27. Oktober 2022
Weitere Termine: 02., 09.11./ 01., 21.12.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de
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