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nachDRUCK # 6

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Repertoire

Ein Flirt in

Kriegszeiten



Die Nacht von Lissabon am Maxim Gorki Theater Berlin | Foto © Esra Rotthoff

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Wissen Sie, worauf Sie sich eingelassen haben? Sie haben ein Date mit mir gebucht; ruft Dimitrij Schaad anfangs aus. Spontan entledigt sich der gebürtige Kasache seiner Jacke und seines Hemdes und präsentiert seinen vollbehaarten Oberkörper; Szenenapplaus folgt nach kurzer Denkpause. Dann meint er jedoch, seine selbsterklärte „Wampe“ sei gar nicht so beklatschenswert. Das Publikum sei noch ein bisschen gehemmt, bemerkt er sodann zu seiner bald auftretenden Co-Akteurin Anastasia Gubareva. Sie könne mal ein paar Takte singen. Sogleich erfüllt die gebürtige Russin den Raum mit ihrem beeindruckenden Stimmorgan. Sie wird, begleitet von Multiinstrumentalisten einer vierköpfigen Band [ Namen s.u.], im Verlauf des über zweistündigen Abends noch mindestens sechs weitere, teils eigens für die Aufführung von Jörg Gollasch komponierte Songs vortragen. Schaad wird sich später noch offenherziger in Boxershorts präsentieren und noch hemmungsloser mit Gubareva oder dem Publikum flirten.

Auch eine Reise des deutsch-türkischen Regisseurs Hakan Savaş Mican an die Handlungsorte der Romanvorlage wird über regelmäßige Bilder einer Videoinstallation auf der Rückwand der requisitenarmen Bühne visualisiert. Collagenhaft wird so der Findungsprozess für die Inszenierung thematisiert, auch wenn Schaad Tagebuch-Eintragungen des Regisseurs während seiner Studienreise zur Inszenierung vorträgt. So gerät die Jetztzeit an den Handlungsorten in den Blick: „Heute werden ja mehr Mauern gebaut, als eingerissen“, so Schaad. Gleichzeitig spöttelt Schaad, Hakan habe immer gewollt, er solle wie ein wahrer Türke spielen oder ausdrucksloser agieren. Hakan habe Kirche wie "Kirsche" ausgesprochen, immer gelogen, das Google-Dasein befragt, behauptet Schaad, der mehrfach ausgezeichnete Star am MGT. In Micans Adaption des bekannten Exilromans am Gorki-Theater geht es dann aber doch um das Draußenbleiben, während alle anderen drin sind, um Bitterkeit, um Angst und um etwas damals Existentielles wie Lebensmittelmarken.

Schaad fragt, ob jemand im Theatersaal dem „Remarque-Fanclub“ angehöre und gar nicht wegen ihm gekommen sei, woraufhin sich einige Zuschauer hörbar regen. Das als pazifistisch eingestufte Werk des deutschen Schriftstellers Erich Maria Remarque (1898-1970) wird gerade wiederentdeckt. Edward Bergers 2022er-Neuverfilmung seines Antikriegsroman Im Westen nichts Neues erhielt 2023 vier Oscars, u.a. als bester internationaler Film, und ist somit der bisher erfolgreichste deutsche Beitrag bei den Oscars. In Im Westen nichts Neues verarbeitet Remarque eigene Erfahrungen und die Erzählungen verwundeter Soldaten, die er im Lazarett kennenlernte. Er meldete sich 18-jährig als Kriegsfreiwilliger und kam ein Jahr später nach einer Verwundung in ein Lazarett in Frankreich. Im Exilroman Die Nacht von Lissabon verarbeitet Remarque Erinnerungen an die eigene Flucht vor dem Terror der Nationalsozialisten. So floh er selbst, wie seine Figuren, als nichtjüdischer Regimegegner. Remarques Spätwerk inszeniert Mican in einer recht freien Bühnenfassung mit geänderten Texten, Live-Musik und Gubarevas ausdrucksstarkem Gesang.

Schaad und Gubareva verkörpern in dem Kammerspiel erschöpfte Menschen, die 1942 aus dem nationalsozialistischen Deutschland flohen. Ein Flüchtling bietet Passanten Visa und Schiffspassagen in die USA an, wenn dieser ihm eine Nacht zuhört. Dimitrij Schaad tritt als Josef Schwarz zum Publikum und hält zwei Pässe zum Publikum hin. Sein Blick ist starr, seine Augen glänzen, seine Arme zittern. Als Josef Schwarz erzählt er von erschütternden Fluchterlebnissen, gerahmt von Verhaftungen, verzweifelten Internierungen und dem Tod geliebter Menschen. Wenn Schwarz von erfahrener Gewalt durch die Gestapo oder seinem NS-getreuen Schwager erzählt, schlägt und würgt Schaad sich auf beeindruckende Weise selbst, kippt sich rote Theaterfarbe über, wirft Tische und Stühle wie im Zweikampf um.

Der Akteur fällt dann jedoch momenthaft bewusst aus der Rolle, wenn er sein Publikum salopp mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. Er behauptet, Statistiker haben ermittelt, dass sieben Besucher eines vollbesetzten Saales das Jahresende nicht mehr erleben. Einige im Publikum schlucken betroffen und lachen beherzt. Schaad betont, da lägen wir im Schnitt noch gut. Beim Deutschen Theater seien es siebzig, das nenne man dann auch geriatrisches Theater, frotzelt er. Tatsächlich lief am DT vor einiger Zeit eine ähnliche Produktion (Transit nach Anna Seghers), welche die damalige Romanvorlage jedoch konservativer und originalgetreuer für das Theater kondensierte.

Hakan Savaş Mican kürzte Remarques Rahmenhandlung des Aufeinandertreffens vom Ich-Erzähler mit Josef Schwarz. Dimitrij Schaad verkörpert hier vor allem den Erzähler Schwarz. Während die bedrückende Dichte der Grausamkeit von Krieg und Vertreibung in der Transit-Inszenierung bildhaft beeindruckte, setzte Mican aktuellere Bezüge und ließ seinem Team Raum für neue Akzentsetzungen und eine direktere Ansprache ihres Publikums. Hier bleiben vor allem die erfrischenden Performance-Künste Schaads und die stimmungsvollen Gesangsdarbietungen Gubarevas in Erinnerung.



Anastasia Gubareva und Live-Band in Die Nacht von Lissabon am MGT Berlin
Foto © Ute Langkafel

Ansgar Skoda - 27. Mai 2024
ID 14769
DIE NACHT VON LISSABON (Maxim Gorki Theater Berlin, 26.05.2024)
Regie & Bühne: Hakan Savaş Mican
Musikalische Leitung und Komposition: Jörg Gollasch
Video: Benjamin Krieg
Kostüme: Miriam Marto
Dramaturgie: Irina Szodruch
Livemusik:
Licht: Gregor Roth
Mit: Anastasia Gubareva und Dimitrij Schaad sowie den Live-Musikern Lukas Fröhlich, Peer Neumann, Wassim Mukdad und Michael Glucksmann
Premiere war am 11. Januar 2019.
Weiterer Termin: 01.07.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.gorki.de


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