Falsche
Wahrheiten
und die Liebe
zu Losern
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Sophie Basse als Irene Moll, Christian Czeremnych als Jakob Fabian und Imke Siebert als Kulp in Fabian oder der Gang vor die Hunde am Theater Bonn | Foto © Emma Szabó
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Bewertung:
Gibt es sie – die Liebe? Ist Geschlechtsverkehr ohne „seelische“ Nähe möglich? Wie ist damit umzugehen, wenn andere unsere Überzeugung als Lüge entlarven? Lassen sich Macht und Vernunft als Antagonisten denken? Gibt es ein pekuniäres Organ, also eines, mit dem sich Geld verdienen lässt? Die illustren Akteure auf der Bühne sprechen im schnellen Tempo zum Publikum hin. Sie führen hanebüchene Monologe oder kreative Dialoge, die assoziativ von „flinken Fisimatenten“ zum „Lumpenproletariat“ übergehen und gerne auch exzentrisch oder anzüglich werden. Während dieser Gespräche wird stets ein bisschen die Melancholie und Schwermut des zentralen Titelhelden Jakob Fabian (Christian Czeremnych) deutlich.
Gleich zu Beginn der Inszenierung erschießt sich Stephan Labude (Sören Wunderlich), was er im Verlauf später noch öfter tun wird. Er begründet den Suizid damit, dass seine Habilitationsschrift abgelehnt worden sei: „Das bricht meinen Kopf das Herz und meinem Herzen das Genick.“ Labude setzt sich einen Revolver an die Schläfe und drückt mit lautem Knall ab. Sein ausgemergelter Körper rutscht sogleich fallend in einen Trichter in der Bühnenmitte. Der große Krater im Bühnenzentrum dominiert das dunkle, schräg abfallende Bühnenbild von Oliver Helf. In diesen steilen Aktionsraum rutschen die sieben Akteure wie auf einer Rampe oder Rutschbahn mitunter hinein, um sich wieder nach oben zu kämpfen. Ansonsten gibt es nur wenig Requisiten am Bühnenrand, wie etwa einige Sitzgelegenheiten.
Labudes Freund Jakob Fabian trauert sogleich um seinen Freund nach dessen Freitod: „Ich wünschte, du könntest reden, denn ich hätte viel zu fragen.“ Labude erhört sodann den Wunsch. Der Zuschauer fragt sich prompt, ob nun eine Rückblende folgt oder Labude als Gestorbener weiterhin lebendig mitspielt. Er wird jedenfalls nicht nur von Fabian, sondern auch von den anderen Figuren wahrgenommen.
Fabian trägt bald ein goldglänzendes Jackett, wenn er um seine große Liebe wirbt. Er wird zweimal von lüsternen Frauen entkleidet. Der Antiheld nimmt die eigene Überflüssigkeit wahr, erscheint nachgerade nackt. Später rennt er oberkörperfrei um den Bühnenkraterrand. Als widersprüchliche Figur erscheint er als fehlbar und verweigert sich, sehnt sich jedoch stets nach Liebe.
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Erich Kästner beschreibt in seinem Großstadtroman Fabian (1931) das glamouröse Leben der Bars und Bordelle im Berlin der Goldenen Zwanziger. Er porträtiert das Lebensgefühl seines sensiblen Titelhelden in der gesellschaftlich-politischen Umbruchsituation der damaligen Zeit. Sein Antiheld ist erst Werbetexter, dann arbeitslos. Dominik Graf erhielt für seine vielbeachtete Verfilmung von Kästners satirisch-überspitzter, bitterer Collage 2021 zahlreiche Preise.
Am Theater Bonn inszenierte nun Gastregisseur Martin Laberenz Kästners Roman über moralischen Verfall und den einhergehenden Zerfall der Weimarer Demokratie. Er setzt dabei viel auf Schauwerte, ohne jedoch die politische Dimension von Kästners Roman anzudeuten.
Der in Finnland geborene Regisseur betont vielmehr den verruchten Reiz der Nachtclubs in den Zwanzigern in der deutschen Hauptstadt. Es wird auf der Bühne Kette geraucht. Die Figuren tragen Fransenkleider und Hüte; die Herren zeigen unter durchsichtigen Hemden nackte Haut, die Damen schillern in glitzernden Kostümen mit Federn, Strasssteinen und -perlen (Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Ein Kellner am Cocktailbarwagen (Jacob Z. Eckstein) verliest Regeln für den Besuch eines zwielichtigen Etablissements. Der gleiche Akteur spielt in einer bizarr-grotesken Szene einen Menschen, dem Fabian blankes Eisen aus dem Hinterteil zieht (eine Szene, die bei der Erstveröffentlichung des Romans zensiert wurde). Sophie Basse agiert sichtlich bewegt als Irene Moll, leidenschaftliche Nymphomanin, Zuhälterin und Inhaberin eines Bordells, das Männer zahlungskräftigen Frauen anbietet. Sie kritisiert gegen Ende, dass auch Literatinnen in Büchern die Perspektive unabhängiger, nicht im traditionellen Sinne attraktiver Frauen zu selten einnehmen. Es wird nur über Dialoge angedeutet, dass sich die Jura-Studentin Cornelia (Lena Geyer) für das Filmbusiness prostituiert. Eine sogenannte Erfinderin (Ursula Grossenbacher) wird vage als Obdachlose gezeichnet, ohne jedoch unter Armut oder den schwierigen Bedingungen im ungesunden Lebensraum zu leiden.
Die Arbeitssuche Fabians wird als Rollenspiel am Gartentisch während eines Picknicks szenisch skizziert. Er assoziiert hierbei frei zu vergangenen Berufserfahrungen; er sei Bingo spielender Briefträger, Barbier oder Bierbrauer gewesen und habe „Bäume schön gestrichen“. Trotz all dieser postulierten Erfahrungen plagt den Antihelden auf der Bühne weiterhin die Befürchtung, zu Blutwurst verarbeitet zu werden in seiner mehrfach artikulierten, diffusen Angst vor einem Untergang, ein bezeichnender Verweis auf eine Ohnmacht im Angesicht des sich ankündigenden, verheerenden Faschismus.
Der durch zwei Gesangseinlagen effektvoll aufgelockerte Theaterabend regt mit allerlei Provokationen zum Nachdenken an, ist mitunter jedoch recht langatmig, zäh und pathetisch.
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Fabian oder der Gang vor die Hunde am Theater Bonn | Foto © Emma Szabó
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Ansgar Skoda - 19. November 2023 ID 14482
FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE (Schauspielhaus Bad Godesberg, 18.11.2023)
Regie: Martin Laberenz
Musik: Johannes Hofmann
Bühne: Oliver Helf
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Boris Kahnert
Dramaturgie: Jan Pfannenstiel
Besetzung:
Jakob Fabian ... Christian Czeremnych
Stephan Labude ... Sören Wunderlich
Cornelia Battenberg ... Lena Geyer
Irene Moll ... Sophie Basse
Erfinderin ... Ursula Grossenbacher
Kulp ... Imke Siebert
Frau Sommer, Fischer, Badewannenfabrikant, Zacharias, Weckherlin … Jacob Z. Eckstein
Premiere war am 22. September 2023.
Weitere Termine: 22., 29.12.2023// 06.01.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de
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