Deutscher
Gastarbeiter
in der Türkei
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Christoph Gummert mit Band in Istanbul am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Gülden schillern Lüster vom Bühnenhimmel; orientalisch anmutende Teppiche schmücken die Bühne. Die bedeutende türkische Millionenmetropole am Bosporus wird in Istanbul im Schauspielhaus Bonn als pulsierender Sehnsuchtsort gezeichnet, wie schon zuvor in einigen Filmen des Erfolgsregisseurs Fatih Akin.
Istanbul erzählt vom fiktiven Schicksal deutscher Arbeiter in der bevölkerungsreichsten Stadt der Türkei. Lieder der türkischen Sängerin Sezen Aksu werden dabei temporeich von wechselnden Akteuren vorgetragen. Der heute 67jährige Popstar integriert auch Folklore, modernen Türkbeat, kurdische oder alttürkische Texte in ihre selbstkomponierten Songs. In der Türkei ein Megastar, erlangte Aksu auch in Deutschland spätestens seit den 1990ern große Bekanntheit.
Istanbul behandelt die Nostalgie und den Schmerz des Schicksals des Wanderarbeiters, der seine Heimat verlassen hat; nur dass die "Gastarbeiter-Situation" umgedreht wurde. Deutsche finden hier in der boomenden Türkei Arbeit. Die Vorführung möchte durch die Umkehrung der Verhältnisse ein größeres Verständnis für die nunmehr sechzigjährige Geschichte der türkischen Gastarbeiter hierzulande schaffen.
Lose aneinandergereiht behandeln eher komische Szenen harte Bedingungen der Gastarbeiter, Hürden des Spracherwerbs und Schwierigkeiten beim Familiennachzug. Christoph Gummert mimt den Begleiter Ismet, der den Gastarbeiter Klaus Gruber (Timo Kählert) seine Unterkunft in Istanbul zeigt und örtlichen Gepflogenheiten näherbringt. Schon kleine Änderungen im Alltag beunruhigen den ausländischen Arbeitnehmer Klaus: Kaffee gibt es keinen, dafür Chai-Tee.
Was für ein starker Bühnenmoment, wenn Christoph Gummert plötzlich mit Verve als Drag Queen mit regenbogenfarbener Langhaarperücke und auf Stöckelschuhen nuanciert einen Chanson darbietet. Sophie Basse und Lydia Stäubli markieren hierbei tänzerisch ausdrucksstark (Choreografie: Arzu Erdem-Gallinger) einen Backgroundchor. Wird hier Istanbul als eine gleichberechtigte Gemeinschaft utopisiert? Immerhin gab es auch 2021 gegen den Gay Pride in Istanbul ein Demonstrationsverbot mit einhergehender Polizeigewalt. Eine allgemeine Schwulenfeindlichkeit in der Türkei wird nichtsdestotrotz kurz signalisiert, wenn Klaus die Befürchtung äußert, sein einziger Sohn Deniz (David Hugo Schmitz) könne womöglich schwul sein.
Aspekte wie Politik oder Religion werden sonst bewusst dramaturgisch ausgeklammert. Auf der Bühne gibt es so keine kopftuchtragenden Frauen, Muezzin-Gebetsrufe und Alkohol wird ausgeschenkt.
Bis zum Schluss tragen die gelungenen Musikperformances durch den Abend, nicht erst wenn David Hugo Schmitz in einer Zugabe als in der Türkei integrierter Bürger der zweiten Gastarbeitergeneration „Simarik“ von Tarkan performt, ein von Sezen Aksu mitkomponierter internationaler Hit.
Die Texte und Melodien der türkischen Chanson-Kultur pulsieren vor Gefühlen. Wer einmal länger als zwei, drei Urlaubswochen in der Türkei gelebt hat, der weiß: in den Teehäusern, den Überlandbussen, überall schallt aus Radio und Fernsehsendern nach Liebe sehnsüchtige, von enttäuschter Liebe klagende Musik! Eine Liedkultur, für ausländische Ohren schwankend zwischen Schönheit und schmachtender Sentimentalität. Eine Kultur, die weit über die türkischen Landesgrenzen strahlt (ebenso wie TV-Soap-Opera-Serien).
Diese Melancholie und Stimmung fängt Roland Riebelings Inszenierung auf fabelhafte Weise ein. Die Musiker Ceren Bozkurt, Torsten Kindermann, Koray Berat Sari und Jan-Sebastian Weichsel beherrschen mehrere Musikinstrumente bravourös. Die fünf Darsteller tragen die melancholisch-bilderreichen, nicht immer überzeugenden Lyrics und verhelfen dem Abend zu einem hohen, künstlerischen Niveau. Ein großes Kompliment an die fünf Akteure, die sich die türkischen Lyrics von jeweils mindestens zwei Songs angeeignet haben. Nur Bandmitglied Ceren Bozkurt, die auch zwei Songs auf berührende Weise vorträgt, ist türkische Muttersprachlerin. Das starke Ensemble transportiert die Emotionen der Songs und das Gemeinschaftsgefühl, das diese Chansons in der Türkei zu vermitteln vermögen. Schade, dass die überregionale Presse wieder einmal die Schauspiel- und Gesangsleistung der Bonner Künstler bei diesem kurzweiligen Abend nicht ausführlicher würdigte.
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Istanbul am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Ansgar Skoda - 19. Oktober 2021 ID 13223
ISTANBUL (Schauspielhaus, 15.10.2021)
Inszenierung: Roland Riebeling
Bühne: Thomas Rupert
Supervision Bühnenbild: Isabell Ziegler
Kostüme: Nini von Selzam
Musikalische Leitung: Torsten Kindermann
Dramaturgie: Nadja Groß
Choreografie: Arzu Erdem-Gallinger
Mit: Timo Kählert, Lydia Stäubli, Christoph Gummert, Sophie Basse und David Hugo Schmitz sowie den Musikern Torsten Kindermann, Jan-Sebastian Weichsel, Koray Berat Sari und Ceren Bozkurt
Premiere war am 1. Oktober 2021.
Weitere Termine: 21., 22.10. / 12., 13.11.2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de
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