Bälle-Ping-Pong mit schmerzhaften Schüssen
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Iwanow am Berliner Ensemble | Foto © Matthias Horn
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Bewertung:
Nein, auf den Bartresen darf sich der schlaksige Michael (Maximilian Diehle) wirklich nicht setzen. Der Wart ermahnt ihn erbost. Protestierend steht Michael kurz auf, um wenige Augenblicke später, als der Wart gegangen ist, wieder an gleicher Stelle Platz zu nehmen. Die litauisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross versetzt die Handlung von Anton Tschechows Iwanow in die Gegenwart eines biederen, Netzroller genannten Tennisclubs mit strikten Regeln. Die Figurenzeichnungen werden durch den Wegfall von Originalszenen und das Hinzufügen neuer Szenen aktualisiert. Requisiten der wechselnden Schauplätze einer Drehbühne sind vielfach verwendete gefüllte Tennisballsammler, Plastikstühle, abgewetzte Ledersofas, Spinde, ein Feuerlöscher und ein Sonnenschirm. Bald werden Bälle wild herum geschossen und menschliche Extreme entladen sich hemmungslos; ohne jedoch je etwas wirklich zu verändern.
Eher lethargisch und larmoyant als ambitioniert frönen die zehn Figuren dem Hobby als trivialen Zeitvertreib. Da wird mal Boris Beckers Anschlag erwähnt oder es heißt gar lapidar, „hell“ und „Mammut“ ergeben ein „Helmut“. Trotz konkreter Probleme wie fälliger Zinsen und offener Rechnungen dominiert eine Atmosphäre des Stillstands und gepflegter Langeweile. Tschechows tragikomisches Theaterdebüt von 1887 stellt moralische Fragen. Figuren und Typen tauchen in späteren gesellschaftskritischen Werken des Autors wieder auf. In der angespannten Atmosphäre bleiben Kontroversen nicht aus. Die Figuren fordern sich gegenseitig nicht nur bei Tennisübungen und -duellen heraus. Sie sind einander durchaus nicht immer wohlgesinnt und geraten schnell aneinander. Einige Figuren führen sich jedoch auch in komischen Szenen eine eigene vermeintliche Primitivität und Erbärmlichkeit vor Augen und konfrontieren sich mit gescheiterten Träumen oder der eigenen Sterblichkeit.
Schnell wird in der über dreistündigen Inszenierung (mit Pause) klar: hier interagieren zehn Akteure in eher ungesunden Mechanismen sozialer Beziehungen. Nicolas (Peter Moltzen), eine der Hauptfiguren, trennt sich allmählich von der unheilbar krebskranken Sarah (Constanze Becker), die für ihn ihre Eltern verlassen und dem jüdischen Glauben abgeschworen hat. Ausgerechnet die jüngste Figur von Tschechows Personentableau, die gerade Einundzwanzig gewordene Sascha (Amelie Willberg), macht Nicolas keck Avancen. Wenn sie während ihrer Geburtstagsfeier in einem privaten Moment Nicolas eigene Kurzgeschichten vom sexuellen Erwachen vorträgt, streift sie heimlich ihr Höschen ab. Doch die Inszenierung fetischisiert diese Aktion nicht. Ihre Verführungskünste bleiben während des Bühnengeschehens weitestgehend folgenlos, wenn Nicolas abweisend dauerhaft seine Kopfschmerzen bedauert und Gelegenheitsraumpfleger Michael das Höschen später kommentarlos aufhebt.
Eine schöne Schlagabtausch-Szene ist es, wenn sich Sascha anlässlich ihres Geburtstages wünscht, dass jeder einmal im Stuhlhalbkreis sagen möge, welches Wort er oder sie an diesem Abend nicht mehr hören kann. Ihre sichtlich genervte Mutter Stina (Claude De Demo) wirft ihr prompt Gutmenschentum und Anglizismen im Verb „triggern“ vor. Nicolas hält einen sich selbst abwertenden und bemitleidenden Monolog auf das Wort „Arschloch“. Saschas Vater Paul (Paul Herwig) beschimpft Nicolas als „Schwuchtel“ und kassiert prompt den Einwurf seiner Tochter, dass dieses Wort schon einmal gar nicht PC und homophob sei. Sarah thematisiert, dass sie die Worte „Jude“ oder „Krebs“ in der Gemeinschaft nicht mehr fallen hören möge. Ihr wird sogleich entgegnet, dass sie doch Jüdin sei und Krebs habe. So werden Verletzlichkeiten aufgegriffen, Nähe und Distanz wird stets neu ausgelotet, und es brechen sich antisoziale Beschuldigungen bahn. Später wird ihr ausgerechnet ihr Gatte „kranke Judensau“ nach einem Streit hinterherrufen. Tschechow, der selbst mit einer jüdischen Frau liiert war, thematisiert hier bewusst Antisemitismus.
Eine betont heiterere Figur mimt Zoë Valks in der Vorführung als Marta (Babakina). Sie ist stolze Influencerin auf Instagram mit fünfstelligen Followerzahlen. Es ist sehr komisch zu sehen, wie sie die unmöglichsten Konflikte auf der Bühne provokant mit ihrem iPhone filmt. Daraufhin angesprochen behauptet sie kokett, sie müsse Geld verdienen. Ihr eigenes persönliches Schicksal macht sie gar vom Wunsch ihrer Follower abhängig: „Soll ich den Grafen heiraten? Soll ich Gräfin werden? Kommentiert und stimmt ab unter dem Story-Videopost.“ Bemerkenswert ist im insgesamt starken Ensemble weiterhin Claude De Demo in der fordernden und bestimmenden Rolle der Stina.
Der knappe Tennisdress mit kurzen Hosen und Kleidern korrespondiert effektvoll mit blankliegenden Ängsten und Wutstimmungen. Bereichert wird die Vorführung durch Bilder des Tanzens, der Innigkeit im Zusammenstehen und in der Vereinzelung. Die Vorführung findet zudem eindrückliche Bilder, wenn abgeschossene Bälle in einer Art Traum-Zwischenspiel Schmerzensschreie begleiten. Verdecktes wird offenbar, obwohl im Wirrwarr unterschiedlicher Stimmungen klare Gefühle oder Entscheidungen weitestgehend fehlen.
Eingerahmt wird die Inszenierungen von aus dem Off eingespielten Monologen über die Individualität jedweden Schmerzes, auch bei Tieren. Hier lässt sich Yana Ross von David Foster Wallace inspirieren, aus dessen „Am Beispiel des Hummers“ sie über die letzten 45 Sekunden des lebenden Geschöpfes im Kochtopf zitiert. Gegen Ende der Vorführung hätten sich der eine oder die andere Zuschauerin eine Fortführung der Übertitel beim live performten Schlusssong gewünscht. Im versöhnlichen letzten Bild wurde das Ensemble endlich als funktionierende geschlossene Gemeinschaft gezeigt; ein Kontrast zu den zuvor vom Meister der russischen Literatur inspirierten düsteren Gesellschaftsbildern.
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Iwanow am Berliner Ensemble | Foto © Matthias Horn
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Ansgar Skoda - 25. Juni 2023 ID 14266
IWANOW (Großes Haus, 24. Juni 2023)
Regie und Bearbeitung: Yana Ross
Bühne und Kostüm: Bettina Meyer
Musik: Knut Jensen
Licht: Rainer Casper
Dramaturgie: Karolin Trachte
Mitarbeit Dramaturgie: Samuel Petit
Mit: Peter Moltzen (als Nicolas), Constanze Becker (als Sarah), Veit Schubert (als Matthias), Maximilian Diehle (als Michael), Paul Herwig (als Paul), Claude De Demo (als Stina), Amelie Willberg (als Sascha), Zoë Valks (als Marta), Jonathan Kempf (als Jürgen) und Paul Zichner (als Dirk)
Premiere am Berliner Ensemble: 21. Januar 2023
Weiterer Termin: 25.06.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.berliner-ensemble.de
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