Liebeserklärung
über alle Zeiten
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Orlando – eine Biografie am Schauspiel Frankfurt | Foto © Jessica Schäfer
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Bewertung:
Zwei Frauen (Sonja Beißwenger, Annie Nowak) liegen bereits vor Beginn ineinander umschlungen in der Bühnenmitte. Sie werden im fließenden Wechsel die Reise Orlandos als Erzählerin respektive Titelfigur verkörpern. Eine Spannung erhält die Aufführung dadurch, dass die Darstellerinnen sich mitunter während des Spiels abstimmen oder sich gegenseitig als Handelnde vorschicken. Wichtige weitere Figuren treten in wechselnden Rollen und farbenprächtigen Kostümen hinzu. Am kuriosen Abend geht es um die Widrigkeiten des Lebens, Absurditäten, Einsamkeit und Liebe. Bei vertrackten inhaltlichen Sprüngen der literarischen Vorlage, blickt das Darstellerinnen-Duo nachdenklich-verschmitzt ins Publikum und pocht auf das Vertrauen an die eigene Fantasie. Lustvoll wird mit Bühnentabus gebrochen, denn die Titelfigur darf auch mal ausgedehnt gähnen, still dasitzen und einfach nur denken. Dabei wird sie dann von den Umstehenden eindringlich umrahmt.
Orlando, romanische Form von Roland, gehört im Südengland um 1570 dem alten Landadel an. Der schöne Jüngling gewinnt die Gunst von Königin Elisabeth I. (Angelika Bartsch) Er verliebt sich in die Adlige Sascha (Rokhi Müller), wird enttäuscht und zieht sich auf das Land zurück. Er versucht sich als Schriftsteller, wird jedoch vom gehuldigten Erfolgsautor Mr. Greene (André Meyer), dem er nacheifert, öffentlich als „schwülstig“ geschmäht. Er hält eine aufdringliche adlige Erzherzogin (Mark Tumba) auf Abstand, wird Diplomat in Konstantinopel. Er wandelt sein Geschlecht im dreißigsten Lebensjahr zur Frau. Seine Dienstboten (Angelika Bartsch, Rokhi Müller) passen sich dienstfertig an, als sei nichts gewesen und nennen sie nun Milady anstatt Milord. Sie durcheilt fortan dreieinhalb Jahrhunderte und erlebt allerlei Abenteuer.
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Für die Britin Virginia Woolf war ihre übermütige Hommage und verfremdete Biografie ihrer langjährigen Freundin und Geliebten Vita Sackeville-West, ebenfalls Schriftstellerin, ihren Tagebüchern zufolge „ein einziger Witz; & doch heiter & schnell lesbar, glaube ich“. (Lucia Biehler inszenierte Woolfs Roman Orlando 2021 am Schauspiel Köln bildgewaltig stimmungsvoll mit vielen bedeutungsvollen Requisiten und rotierenden Elementen wie Spiegeln.)
Das Regieduo Anselm Weber und Katrin Spira kommt in Frankfurt mit wenigen Requisiten aus. In der linken Bühnenhälfte ist mittig ein Sofa platziert. Effektvoll senkt und hebt sich eine Wand zur Hinterbühne. Auch ein Reifrock-Gestell, das die anderen Akteure kurzzeitig auf Abstand hält, kommt nach der Wandlung des Geschlechts zum Einsatz.
Aufgelockert wird der Theaterabend durch effektvolle Gesangs und Tanzperformances. So singt Annie Nowak den „Cold Song“ von Henry Purcell, wenn sie als Orlando ungläubig die Abreise ihrer Geliebten Sascha betrachtet. Sonja Beißwenger erprobt sich hingegen an „Life on Mars“ von David Bowie, um sich die Einsamkeit und widerstrebende Gefühlswelt Orlandos vor Augen zu führen. Später singt und tanzt mehr oder weniger das gesamte Darstellerensemble zu „Dancing barefoot“ von Patti Smith im Zuge der Wandlung des Geschlechtes. „Single Ladies (put a ring on it)“ von Beyoncé Knowles wird gemeinschaftlich während der Hochzeit von Orlando und eines Seeoffiziers performt. Gegen Ende erprobt sich das Ensemble an „Happier than ever“ von Billie Eilish, wenn Orlando und ihre engsten Vertrauten den gegenwärtigen Zeitpunkt des Daseins spirituell verinnerlichen.
Schlussendlich bereichert insbesondere ein direkter Einbezug des Publikums die Aufführung. „Wo bin ich hier gelandet?“ fragt Orlando mal und wendet sich fragend den Zuschauern zu. Wenn es um die verführerischen Düfte der Gesellschaft oder die Londoner Gesellschaften Orlandos geht, blicken die beiden Orlando-Darstellerinnen versonnen ins Publikum, bedauern jedoch, dass sie auf ihre Fragen von den Zuschauenden keine Antworten erhalten. Wenn die Erzherzogin (Mark Tumba) laut rufend durch die Zuschauerreihen schreitet und von Orlando abgewiesen wird, schaut die Geschmähte konsterniert ins Publikum und ruft: „Können Sie vielleicht auch mal etwas sagen?“ Bei einem Glücksspiel, bei dem Orlando gegenüber ihrem Besuch regelmäßig verliert, verfolgen die Akteure fiktive Fliegen und deuten auf Menschen im Publikum, auf denen diese landen würden.
Die geistreich-witzige Aufführung dramatisiert auf köstliche Weise, wenn sich Orlando von niemanden verstanden fühlt oder meint, das Leben würde an ihr vorbeiziehen oder einen Verlust aller Illusionen bedauert. Schreiend komisch ist auch eine Szene, in der es darum geht, dass die Daseinsberechtigung einer Frau einzig die Liebe sei. Lesbisches Begehren wird unter anderem in intensiven Küssen zwischen Akteurinnen bebildert. Einige Aspekte des Romans, wie die Schwangerschaft Orlandos, werden hingegen nicht beleuchtet. Am Ende der sehenswerten Inszenierung steht die Frage, was Herkunft, Geschlecht und Besitz eigentlich angesichts eines reichhaltigen und erfüllten Lebens noch bedeuten können.
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Orlando – eine Biografie am Schauspiel Frankfurt | Foto © Jessica Schäfer
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Ansgar Skoda - 27. November 2023 ID 14497
ORLANDO – EINE BIOGRAFIE (Schauspiel Frankfurt, 25.11.2023)
Regie: Anselm Weber, Katrin Spira
Kostüme: Cosima Wanda Winter
Musikalische Einrichtung: Christina Lutz
Komposition: Clara Pazzini
Choreografie: Zoë Knights
Dramaturgie: Katrin Spira
Licht: Frank Kraus
Mit: Angelika Bartsch, Sonja Beißwenger, André Meyer, Rokhi Müller, Annie Nowak und Mark Tumba
Premiere war am 24. September 2023.
Weitere Termine: 08., 11., 15., 30.12.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielfrankfurt.de
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