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Gesellschaft



Sandrine Zenner (hinten) und Christian Czeremnych in Mercedes von Thomas Brasch - am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

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"Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz." – Janis Joplins letzte Aufnahme vor ihrem Tod 1970 schrieb Musikgeschichte. Ihr Song Mercedes Benz richtete sich gegen Konsum und für ein positives Selbstgefühl. Joplin besaß nie einen Mercedes. Trotzdem nutzte die Automobilmarke ihre Aufnahme später für einen Werbespot. Auch in Thomas Braschs Drama Mercedes (1983) steht der Mercedes für ein kulturelles Statussymbol par excellence.

In Julie Grothgars pointierter Bonner Inszenierung des Dramas besetzt kein Auto die Werkstadt-Bühne. Bühnenbildner Wolf Gutjahr hat die ebenerdige Bühne effektvoll großräumig mit Planen verhängt. Die Figuren, die sich einander salopp als Oi (Sandrine Zenner) und Sakko (Christian Czeremnych) vorstellen, betreten zunächst einzeln von unterschiedlichen Seiten die Bühne. Beide setzen sich hier teils selbst in das rechte Licht, indem sie Scheinwerfer neu platzieren. Oi spricht monologisch zum Publikum hin. Sie trägt anfangs eine archaisch und naiv wirkende Kopfmaske, später einen knallgelben, Stola-ähnlichen Mantel (Kostüme: Maximilian Schwidlinski). Kostümwechsel deuten effektvoll neue Szenen an.

Oi ermisst die eigene Gegenwart, während sie kräftig in die Tasten eines Luftpianos haut. Der sichtlich beeindruckte Sakko tritt auf Oi zu, doch sie guckt betont desinteressiert an ihm vorbei. Sakko lässt unter seinem Sakko ein abgerissenes T-Shirt mit unzähligen Mercedessternen hervorlugen. Er flirtet aufdringlich und erzählt großspurig von teils erfundenen Lebensinhalten; sie gibt sich aufmüpfig, abweisend. Oi präsentiert sich als eine große Erzählerin und Lebenskünstlerin, die Rollen regelmäßig neu an- und auslegt. Offensichtlich braucht sie hierfür niemanden an ihrer Seite. Doch Sakko beweist Durchhaltevermögen, und Interesse flackert auf.

Spielerisch nähern sich Oi und Sakko nun an, mimen mal Cowboy und -girl, Dealerin und Drogenkonsument, Prostituierte und mittelloser Freier. Wenn sich beide auf der Bühne über die durch Sakko repräsentierte Limousine unterhalten, sprechen sie auch über Träume. Die Automarke Mercedes bildet insbesondere für Sakko einen abstrakt bleibenden, fiktiven Sehnsuchtsort.

Aggressionspotenzial scheint durch, wenn Oi ihr Bild von der Leistungsgesellschaft zeichnet. Als sie herausfindet, dass Sakko sich zehn Jahre als Berufssoldat verpflichten möchte, fragt sie beiläufig, ob er nichts Besseres mit seinem Leben anzufangen wisse: Könne er nur so das eigene Sein aushalten? Spannung kommt auf, wenn sie hintergründig Sakkos Regelbedürfnis nach gesellschaftlicher Konformität hinterfragt. Oi empfindet soziale Umgangsformen als lieblos. Muss man sich einpassen in eine Gesellschaft, um einen „glatten“ Lebenslauf zu erhalten? Schlagabtausche wechseln sich mit Reflexionen ab.

Braschs Drama erzählt davon, dass Oi und Sakko Schwierigkeiten haben, sich in eine als sinnlos empfundene Gesellschaft einzugliedern. Denn – wie sich herausstellt – sind beide arbeitslos. Oi und Sakko sind nunmehr auch gesellschaftliche Aussteiger, ohne es so zu nennen oder wahrzunehmen. Oi reißt bald kraftvoll die Planen herunter und ändert so bewusst das Setting. Sie wird sich im Niemandsland der gesellschaftlichen Nonkonformität noch einmal neu erfinden. Wenn Sakko ihr als trauriger Clown mit unzähligen roten Bommeln zu begegnen versucht, wird sie im Hasen-T-Shirt Äpfel im Akkord anbeißen. Bei ihm anbeißen wird sie nicht. Der Blick geht ins Leere. An einem Kreuz hängt eine Hasenmütze.



Christian Czeremnych und Sandrine Zenner in Mercedes von Thomas Brasch - am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu


Der deutsche Schriftsteller und Dramatiker Thomas Brasch (1945-2001) ist derzeit in aller Munde; so läuft gerade das starbesetzte Biopic Lieber Thomas in den Kinos. Der Film unterlag jedoch als Bewerber für den deutschen Beitrag bei den Oscars Maria Schraders Sci-Fi-Film Ich bin dein Mensch.

Brasch selbst empfand seinen Versuch, in Mercedes ohne klassische Handlungsdramaturgie und durchgängige Figuren auszukommen, als nicht gelungen. Sein mutiges und abgründiges Drama wird trotzdem gerade wieder an verschiedenen Theatern neu entdeckt. Am Theater Bonn überzeugt Julie Grothgars temporeiche Inszenierung dank des ausdrucksstarken Darstellerzusammenspiels mit starken Bühnenmomenten.
Ansgar Skoda - 16. Dezember 2021
ID 13361
MERCEDES (Werkstatt, 08.12.2021)
Regie: Julie Grothgar
Bühne: Wolf Gutjahr
Kostüme: Maximilian Schwidlinski
Licht: Ewa Górecki
Dramaturgie: Male Günther
Besetzung:
Oi … Sandrine Zenner
Sakko … Christian Czeremnych
UA am Schauspielhaus Zürich: 6. November 1983
Premiere am Theater Bonn: 18. November 2021
Weitere Termine: 21.12.2021 // 07., 29.01.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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