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Neuinszenierung

Überzeichnete

Nazi-Groteske



Vaterland am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) Sebastian Hoppe

Bewertung:    



Der Roman Vaterland von Roberts Harris, erschienen 1992 in Großbritannien, beschreibt einen alternativen Geschichtsverlauf, in dem Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg bis zum Ural vorgedrungen ist und die Rote Armee geschlagen hat. Das Deutsche Reich erstreckt sich von Europa bis zum Ural. Nur im tiefen Osten herrscht noch ein Guerilla-Krieg. Zu Hitlers 75. Geburtstag 1964 sind große Feierlichkeiten in der Hauptstadt geplant, zu denen sich auch der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy angesagt hat, um den Kalten Krieg zwischen den beiden Atommächten USA und Deutschland zu beenden und wirtschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Just in dem Moment kommt es zu mysteriösen Todesfällen ehemals hochrangiger Nazigrößen, die der Kriminalkommissar und SS-Mann Xaver März mit seinem Kollegen Max Jäger aufklären soll.

In der Inszenierung von Claudia Bauer am Staatsschauspiel Dresden führt vor dem Eisernen Vorhang ein Chor mit halben Puppenköpfen Maskierter in neonfarbigen Sportanzügen mit den Zeitangaben der alternativen Geschichtsereignisse in die komplizierte, weitschweifige Handlung ein. Ein typisches Theatermittel, das Claudia Bauer sehr oft zur Verfremdung einsetzt. Hier hat es wie auch die düstere Musikuntermalung von Thomas Mahn noch einen fast gruseligen Effekt. Ahmad Mesgarha führt die Gruppe anschließend durch das fiktive Germania nach den Plänen von Albert Speer mit der riesigen Siegeshalle für über 100.000 Menschen, deren Atmen in der Kuppel kondensiert und als Regen wieder herunter fällt. Mesgarha gibt seiner Fremdenführerin einen berlinischen Charme, wie auch die weitere Figurenzeichnung vor der Pause einen Hang ins Groteske hat. Bauer bedient sich bei den Hauptfiguren eines Genderswitch. Nadja Stübiger gibt den Kommissar März im langen Ledermantel mit fein gezeichnetem Oberlippenbart. Wesentlich überzeichneter mimt Betty Feudenberg den ängstlichen, ständig futternden Kollegen Jäger mit weit aufgerissenen Augen. Als 40er-Jahre-Hollywood-Vamp mit Zigarettenspitze und lila Ledermantel kommt Yassin Trabelsi als US-Journalistin Charlotte Maguire daher. Sie ist dem gleichen Fall für eine gute Story auf der Spur und kreuzt so den Weg des Kommissars, der bei seinen Ermittlungen plötzlich den Schergen der Gestapo in die Quere kommt.

Hier soll im großen Stil etwas vertuscht werden, was als Wannsee-Konferenz in die tatsächliche Historie eingegangen ist. Die planmäßige Vernichtung der Juden, die hier minutiös protokolliert in Kopie ein wichtiges Zeitdokument für den Beweis des Holocaust wurde. In Harris‘ Roman ist von der Vernichtungsmaschinerie der Nazis nichts übrig geblieben, was daran erinnern würde. Die Juden gelten als im Osten verschollen. Um die Legende weiter aufrecht zu erhalten und dem US-Präsidenten keine Belege für Menschenrechtsverletzungen zu liefern, wurden alle Zeugen der Konferenz nach und nach beseitigt. Für März, der den Spuren bis nach Zürich in ein Bankschließfach folgt, stellt sich irgendwann die Frage, was hier Wahrheit ist und wie weit man für diese bereit ist zu gehen.

In Bauers Inszenierung begegnet man dem Schrecken zunächst als lustigem Mummenschanz. Mesgarha blödelt seinen Kennedy als amerikanische TV-Knallcharge hin. Sehr schön singt er auch als gealterte Zarah Leander deutsche Schlager. Es gibt Schweizer Schoki fürs Publikum, Marin Blülle klärt im schönsten Dialekt über das Schweizer Bankgeheimnis auf, und Viktor Tremmel brilliert mit tief österreichischem Zungenschlag als Gestapo-Bluthund Globocnik, der März auch bald in die Mangel nimmt. Das Zentrum des Grauens bildet hier eine große, ständig kreiselnde Holzbox, in deren Innenraum Bühnenbildner Andreas Auerbach einen kleinen Wald und deutsche Heimelichkeit mit Geweihen und Kriegsspielzeug gebaut hat. Die Zwiegespräche darin werden via Livekamera auf herunterfahrende Videowände projiziert. Das gibt dem ganzen den Eindruck eines düster spannenden Kammerspiels. Sehr dämonisch auch Tilo Krügel als März‘ Vorgesetzter Nebe, der mehr zu wissen scheint, als er vorgibt, und März doch nicht von seinem gefährlichen Spiel abhält. Dem komplizierten Krimi-Plot zu folgen, fällt bei der recht linear erzählten Handlung aber nicht all zu schwer.

*

Nach der Pause gewinnt der anfängliche Klamauk auch an Dringlichkeit, die selbst in der Überzeichnung nicht ihre Wirkung verfehlt. Besonders wenn aus den Wannsee-Protokollen gelesen wird. März und Maguire wollen die Papiere in die Schweiz schmuggeln, damit diese veröffentlicht werden können. Die Reise des zweifelnden Kommissars geht noch weiter bis nach Auschwitz, wo er die Spuren des Vernichtungslagers unter dem buchstäblich gewachsenen Gras findet. Auch beginnt er über den Verbleib jüdischer Familien nachzudenken, als er Fotos der Familie Weiss unter der Tapete seiner Wohnung findet. Als Stolperstein der Erinnerungskultur gedacht, lässt sich der Roman in seiner Handlungsfülle sicher nicht in Gänze dem Thema angemessen für die Bühne adaptieren. Claudia Bauer ist dennoch ein spannungsgeladener und dazu noch unterhaltender Theaterabend gelungen, der einen nicht mit Fakten erschlägt und genug Platz für eigene Gedanken lässt.



Vaterland am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) Sebastian Hoppe

Stefan Bock - 4. März 2023
ID 14084
VATERLAND (Schauspielhaus, 03.03.2023)
nach dem gleichnamigen Bestseller von Robert Harris

Regie: Claudia Bauer
Bühne: Andreas Auerbach
Kostüme: Vanessa Rust
Komposition und Soundtrack: Robert Lippok
Video: Jan Isaak Voges
Musikalische Einstudierung und Live-Musik: Thomas Mahn
Licht: Peter Lorenz
Dramaturgie: Lüder Wilcke
Mit: Nadja Stübiger, Kaya Loewe, Ahmad Mesgarha, Marin Blülle, Betty Freudenberg, Viktor Tremmel, Yassin Trabelsi, Tilo Krügel/ Torsten Ranft
Live-Kamera: Julius Günzel und Christian Rabending
Premiere am Staatsschauspiel Dresden: 23. Februar 2023
Weitere Termine: 10.03./ 07., 22.04.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsschauspiel-dresden.de/


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