Im Mythen-Wasser
weiblicher
Zuschreibungen
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Ophelia's Got Talent von Florentina Holzinger | Foto © Nicole Marianna Wytyczak
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Bewertung:
Nach einer nicht so berauschenden ersten Spielzeit an der Berliner Volksbühne schickt der in der Kritik stehende Intendant René Pollesch zum Auftakt der neuen sein bestes und immer für einen Erfolg gutes Zugpferd ins Rennen. Die Wiener Extrem-Choreografin Florentina Holzinger hat sich nach einem ebenfalls etwas schwachem Einstand mit ihrer Version von Dantes A Divine Comedy vor einem Jahr nun mit jeder Menge schöner Wasserwesen und -leichen beschäftigt. Das nasse Element ist seit der Antike Tummelplatz für mythologische mehr oder weniger als weiblich gelesene Mischwesen, denen übernatürliche Kräfte zugesagt werden, die meist auch noch Tod und Verderben verheißen.
Lauter Männerphantasien, die als vogelähnliche Sirenen, fischschwänzige Nixen und Nereïden, von Göttern in Schwanengestalt vergewaltigte Königstöchter oder wahnsinnige Selbstmörderinnen wie Shakespeares Ophelia, die der neuen Produktion ihren Namen gibt, durch die Kulturgeschichte geistern. Ophelia’s Got Talent ist der Versuch, den bekannten eher düsteren Narrativen eine neue, ganz eigene Deutung hinzuzufügen. Dazu hat Nikola Knežević ein großes Wasserbecken in die Bühne eingelassen und ein überdimensioniertes Aquarium dahinter gestellt. Der Tummelplatz des rein weiblichen Holzinger-Ensembles, das auch wieder alle Hüllen fallen lässt und zumeist nackt agiert.
Es beginnt mit einem Helikopter-Anflug vor der Volksbühne mit Annina Machaz als trinkfreudigem Käpt’n Hook und Host des Abends und endet nach fast 2,5 Stunden auch wieder in einem großen Sturm aus der Windmaschine, bei dem alle Akteurinnen auf einem vom Schnürboden schwebenden Heli klettern. Dazwischen zündet Florentina Holzinger wieder ein buntes Feuerwerk an Ideen wie etwa eine einleitende Talent-Show-Parodie mit dem Titel Ophelia’s Got Talent bei der eine Jury, hier verkörpert von der Schauspielerin Inga Busch, die Tänzerin Renée Copraij und der kleinwüchsigen Performerin Saioa Alvarez Ruiz, ähnlich einschlägiger TV-Formate Talentdarbietungen wie Stangen-Akrobatik, Schwertschlucken, Tanz, Gesang sowie einen fast übel ausgehenden Houdini-Entfesselungsakt unter Wasser bewerten soll. Dass diese Art von unterhaltsamer Kleinkunst-Show auch bei einem Theaterpublikum verfängt, versteht sich fast von selbst.
Den Bogen hin zur eigentlichen Thematik des Wassers spannt dann ein feuchtfröhlicher Sailor‘s-Dance des ganzen Ensembles in Matrosenhemdchen unten ohne. Scham war gestern. Heute schlägt Frau selbstbestimmt zurück. Danach wird geschwommen und über philosophische Fragen nachgedacht. Etwas geistiger Überbau ist nie schlecht. Das bringt ein wenig Ruhe rein, lässt die Sache aber auch etwas seicht dahinplätschern. Zur Erklärung der hier behandelten Mythen gibt es ein Handzettel-Glossar, das von Melusine über Undine, Leda und Ophelia bis zur urdeutschen Loreley reicht. Alles Sirenen einer falschen Romantik, wo laut Florentina Holzinger „die Frau am schönsten ist, wenn sie tot im Wasser liegt“. Da wird auch Schuberts Forellenquintett eingeordnet. Auf geht’s zum fröhlichen Nixen-Angeln. Und eine Freiwillige aus dem Publikum darf noch zu Schillers Ballade Der Taucher auf dem Grunde des Wasserbeckens verschwinden.
Bei allem Spaß an der Freud (oder dem Freud, Holzinger stammt schließlich aus Wien) verlieren die Performerinnen nicht den Ernst und die eigenen Erfahrungen aus den Augen. Da berichtet Xana Novais auf dem Wasser wie in einem Gynäkologenstuhl liegend von einer Vergewaltigung durch ihren Tätowierer, während ihr ein Schlüssel, den sie zu ihrer damaligen Befreiung fand, aus der Vagina gezogen wird. Schmerzhafte Körpererfahrung und Selbstverletzungen mit einem Oberlippen-Piercing mit überdimensioniertem Angelhaken gehören zu Holzingers Extrem-Performance, was an die Wiener Aktionisten erinnert, aber auch selbsttherapeutischer Ansatz ist. Die allgegenwärtige Livekamera von Melody Alia hält dabei immer direkt drauf. Als Schockelement fürs Publikum gibt es noch die Geburtsszene eines Feuerzeugs. Die Lunte ist da nicht weit.
Für Erleichterung im Publikum sorgt dann eine zappelige Mädchencrew, die aus dem Saal heraus die von den Frauen in einer orgiastischen Weltuntergangsszene mit besagtem Helikopterabsturz, Feuer, Wasser und Posaunen, Theaterblut, Plastikmüll von oben und Sirenengeschrei traktierte Bühne stürmt. Der Jugend die Zukunft will das besagen. Wer kann schon glänzenden Kinderaugen widerstehen. Hier erklingt eine andere Art Sirenengesang vom Fluss der ins Meer fließt. Die Volksbühne hat ihren nächsten Publikumsrenner nicht umsonst so nah am Wasser gebaut.
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Ophelia's Got Talent von Florentina Holzinger | Foto © Nicole Marianna Wytyczak
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Stefan Bock - 28. September 2022 ID 13823
OPHELIA´S GOT TALENT ((Volksbühne Berlin, 25.09.2022)
Konzept & Regie: Florentina Holzinger
Sounddesign: Stefan Schneider
Musik: Paige A. Flash, Urška Preis und Stefan Schneider
Bühne: Nikola Knežević
Lichtdesign: Anne Meeussen
Videodesign und Live-Video: Melody Alia
Dramaturgie: Renée Copraij, Sara Ostertag, Fernando Belfiore und Michele Rizzo
Dramaturgie Volksbühne: Johanna Kobusch
Mit: Melody Alia, Saioa Alvarez Ruiz, Inga Busch, Renée Copraij, Sophie Duncan, Fibi Eyewalker, Paige A. Flash, Florentina Holzinger, Annina Machaz, Xana Novais, Netti Nüganen, Urška Preis und Zora Schemm sowie Stella Adriana Bergmann, Greta Grip, Golda Kaden, Izzy Kleiner, Lea Schünemann, Nike Strunk, Laila Yoalli Waschke und Zoë Willens
Premiere war am 15. September 2022.
Weitere Termine: 22., 23., 24.10.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin
Post an Stefan Bock
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