In fünf Stunden um die Welt – Frank Castorf inszeniert Louis-Ferdinand Célines irrlichternden Wahnsinns-Roman Reise ans Ende der Nacht
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Neben Dimiter Gotscheffs pathosschwangerem Revolutions-Requiem Zement von Heiner Müller ist das Bayerische Staatsschauspiel im dritten Kušej-Jahr mit noch einer weiteren Inszenierung eines Berliner Regisseurs beim 51. Theatertreffen vertreten. Volksbühnenchef Frank Castorf hat für das Münchner Residenztheater den 1932 erschienen Skandalroman Reise ans Ende der Nacht von Louis-Ferdinand Céline dramatisiert. Ein wirrer autobiografisch gefärbter Reisebericht, dessen ebenso egozentrische wie wahnhafte Hauptfigur Ferdinand Bardamu von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs über die afrikanischen Kolonien nach Amerika und wieder zurück ins alte Europa irrlichtert. Eine ganze Generation Intellektueller von links bis nach rechts außen hat dieses alle Konventionen der klassischen Literatur über Bord werfende und sich nicht um politische Korrektheit scherende Machwerk verschlungen, dessen Autor Céline nach wie vor nicht nur wegen seiner antisemitischen Ausbrüche stark umstritten ist.
Es ist auch in München ein richtiger langer Castorf-Abend mit Livekamera und Videoscreening aus dem Inneren einer unübersichtlichen Sperrholzburg, halb Schiff, halb Stall, Elendsquartier oder Bordell, je nach Handlungsort und Ausrichtung der Drehbühne, geworden. Über dem gigantischen Bühnenbild von Aleksandar Deníc, der Castorf schon an der Volksbühne [Das Duell] und in Bayreuth [Der Ring des Nibelungen] zur Seite stand, prangt in der Manier des bekannten Arbeit-macht-frei-Schriftzug von Auschwitz die Losung der Französischen Revolution. Die Assoziation, so böse wie klar, verweist nicht nur allein auf den Autor, sondern auch auf den tatsächlichen Verlauf der Geschichte von der Aufklärung über die Ideale der Revolution direkt bis zu Rassenhass und Vernichtung. Es ist auch ein großer Abend über Krieg, das Erbe der Kolonisation, die allgemeine Globalisierung und schwarzes Selbstverständnis geworden. Ein Plakat des Rumble in the Jungle zwischen Muhammad Ali und George Foreman in Kinshasa ist zu sehen.
Castorf entwickelt die Handlung nicht linear. Es beginnt bei der Überfahrt Bardamus (Bibiana Beglau) nach Afrika. Der sich in ständiger Angst vor Ansteckung Befindliche sieht Land und schwarze Bevölkerung mit Faszination wie Abscheu gleichermaßen. Immer wieder aufgescheucht rennt man umher, fiebrig deliriert Bardamu in den Sätzen Célines über Geld, die Hitze, und die „Neger“. In Fort-Gono angekommen, erfährt Bardamu das Elend und die Abschätzigkeit der Kolonialbeamten und Offiziere - „Die reinste Kloake.“ - , und es wird über Fort und Ford gekalauert. Es herrschen Malaria und Syphilis. Dagegen gibt es Alkohol und Morphium, was man sich hier in Form von weißem Pulver reinzieht.
Das Amerika Fords ist dagegen für Bardamu zunächst die Offenbarung. Die Verheißung der neuen Welt offenbart sich ihm aber ohne Geld bald als große Lüge. Die Flucht vom Fließband führt ihn über das Bett der Prostituierten Molly (Katharina Pichler) wieder zurück nach Frankreich, wo er dann später als Arzt in den Armenvierteln von Paris arbeitet. Zum ständigen Begleiter wird ihm der mysteriöse Léon Robinson (wechselnd dargestellt von Aurel Manthei und Franz Pätzold), ein ehemaliger Kriegskamerad und Deserteur. In Rückblenden wird von ihrem ersten Zusammentreffen berichtet. Ein Gespann wie Faust und Mephisto oder Jekyill und Hyde, das sich nicht voneinander lösen kann.
Vor der Gewalt des Krieges wie dem Elend der Gosse flieht Bardamu immer wieder in die Arme schöner Frauen. Die Krankenschwester Lola (Britta Hammelstein), die Polin Sophie (Fatima Dramé) und natürlich Robinson Braut Madelon (wieder Britta Hammelstein). Die meisten der Darsteller treten hier in mehreren und ständig wechselnden Rollen auf. Viel Raum nimmt auch die Geschichte der Familie Henrouille (Götz Argus und Britta Hammelstein) ein, die ihre alte Mutter ins Hospiz abschieben wollen und dann Robinson beauftragen, die resolute grand-mére Henrouille (Michaele Steiger) die Treppe hinunterzustoßen. All das wird bei Castorf in vielen Szenen immer wieder angerissen und mit autobiografischen Texten und Pamphleten Célines vermixt. Nicht jeder wird dem bedingungslos folgen wollen.
Die schwarzhäutige Schauspielerin Fatima Dramé gibt dann noch als Heiner Müllers Engel der Verzweiflung im Duett mit Aurel Manthei als Emissär Debuisson einiges aus dem Auftrag zum Besten. Eine fiebrige Voodoogesangsaustreibung des revolutionären Geistes, einer großen Idee mit Hühnern und Hasen. Und wem es da noch nicht heiß genug geworden ist, der kriecht einfach mit Bibiana Beglau in den rauchenden Backofen. Wieder so ein Fall einer fünf Stunden langen Castorf'schen Komplett-Überforderung aller Sinne. Die Fantasie gehet ihm nimmer aus. Am Ende legt Bibiana Beglau zu Bob Dylans "Things have changed" noch ein sehnsuchtsvolles Tänzchen aufs versiffte Bühnenparkett. "Gonna get low down, gonna fly high / All the truth in the world adds up to one big lie."
[Anm.d.Red.: Der Autor bezog sich in seiner Rezension auf eine von ihm besuchte Aufführung des Residenztheaters München anlässlich der Lessingtage in Hamburg am 25. Januar 2014.]
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Reise ans Ende der Nacht vom Bayerischen Staatsschauspiel - Foto (C) Matthias Horn
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Bewertung:
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Stefan Bock - 8. Mai 2014 ID 7809
REISE ANS ENDE DER NACHT (Residenztheater München)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Deníc
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Gerrit Jurda
Video und Live-Schnitt: Stefan Muhle
Kamera: Marius Winterstein und Jaromir Zezula
Dramaturgie: Angela Obst
Mit: Götz Argus, Bibiana Beglau, Fatima Dramé, Britta Hammelstein, Aurel Manthei, Franz Pätzold, Katharina Pichler, Michaela Steiger und Jürgen Stössinger
Premiere im Residenztheater München war am 31. Oktober 2013
http://www.residenztheater.de
Termine beim Theatertreffen: 8. + 9. 5. 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinerfestspiele.de
Post an Stefan Bock
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