GOЯKI-
Neustart
in Berlin
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Russen, Tussen, Türken, Birken - Kunst, Culture Clash und Klischees. Hoch her ging‘s zum Auftakt der neuen Intendanz von Shermin Langhoff am Maxim Gorki Theater
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Das Maxim Gorki Theater bei Nacht - Foto (C) Stefan Bock
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Der Kirschgarten von Anton Tschechow in einer Inszenierung von Nurkan Erpulat
Zum Auftakt interpretierte der nicht nur in Berlin bereits recht bekannte deutsch-türkische Theaterregisseur Nurkan Erpulat Tschechows Kirschgarten nicht als Widerspruch Alt gegen Neu, Oben gegen Unten, sondern, ganz im Sinne des Leitmotivs des neuen Gorki, nämlich als Kampf der mittlerweile in der dritten Generation im Lande lebenden Migranten gegen die Alteingesessenen. Da wird der alte Sehnsuchtsort Kirschgarten, der ja schon bei Tschechow in jeder Enzyklopädie stand, zu einer Art überkommenen Leitkultur, die der junge Migrant Lopachin (Taner Sahintürk), dessen Vater noch als Leibeigener für die Familie der Ranewskaja (Ruth Reinicke als letzte Verbliebene - im doppelten Sinne - des alten Gorki-Ensembles) ackern musste, am liebsten abholzen möchte. Er will Parzellen mit Ferienhäusern statt schöne Phrasen der deutschen Aufklärung. Taner Sahintürk liest aus Immanuel Kants Was ist Aufklärung? und lässt das Buch wie einst Tschechows Lopachin verständnislos sinken.
Die Unterschiede zur jammernden und schwafelnden Intelligenzija der Ranewskaja, ihres Bruders Gajew (Falilou Seck) oder dem Studenten Trofimow (Aram Tafreshian) werden hier an rein kulturellen Differenzen festgemacht. Da geht doch einiges verloren. Die Ausdeutung der meisten Hauptfiguren bleibt bei allem darstellerischen Können doch recht vage. Den Nebenfiguren bzw. Bediensteten wird in Erpulats Kirschgarten dagegen klar ihre Entsprechung in der heutigen deutschen Einwanderungsgesellschaft zugewiesen. Ihnen allen scheint irgendetwas zu fehlen. Sei es die Identität, Liebe, Zugehörigkeit oder gar die Heimat.
Sie wirken dementsprechend auch irgendwie orientierungslos. Çetin İpekkaya als Firs irrt auf der Bühne umher, verfällt immer wieder in die türkische Sprache und wird von den anderen nicht ernst genommen. Tamer Arslan als Jascha spielt den coolen Macho im Trainingsanzug. Pitschick (Mehmet Yilmaz) und Dunjascha (Mareike Beykirch) sind Karikaturen der Anpassung im deutschen Trachtenlook. Die Travestiekünstlerin Fatma Souad bringt als Charlotta mit ihrer ganz speziellen Geschichte (schwul, lesbisch, türkisch, berlinerisch) etwas Kreuzberger Lokalkolorit nach Mitte. Die schon bei Tschechow alters- und heimatlose Gouvernante als transidentisch darzustellen, ist natürlich schlüssig, aber auch nicht ganz neu.
Tschechows differenzierte Figurenzeichnung tritt hier hinter die klare Absicht des Regisseurs zurück. Nur dass der aktuelle Anstrich bisweilen etwas zu plakativ ausfällt. Immer wieder werden deutsche Volkslieder gesungen, und eine Musikerin (Sinem Altan) im schwarzen Hidschab spielt Klavier. Spätestens wenn Lopachin sich seine neue Heimat gekauft hat und beginnt, die alten Tapeten abzureißen, schlägt auch bei ihm die unaufgearbeitete Vergangenheit durch. Tradition und Moderne geben sich auf der Bühne die Hand. Man tanzt zu türkischer Musik und spricht vom Aufbruch in eine neue Zeit. Zumindest tut man so. Und da ist man dann wieder ganz nah bei der Sehnsucht der Tschechow‘schen Figuren.
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Köpfe (Bild 1) im Maxim Gorki Theater - Foto (C) Stefan Bock
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Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt (inszeniert von Yael Ronen) und
Schwimmen lernen von Marianna Salzmann (inszeniert von Hakan Savaş Mican)
In den anderen beiden Inszenierungen ist man dann doch etwas näher dran an der Lebenswirklichkeit junger Migranten in Deutschland. Die junge Jüdin Mascha (Anastasia Gubareva) aus Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt ist Kontingentflüchtling aus der ehemaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan. Sie ist kriegstraumatisiert und daher nicht gerade auskunftsfreudig, was ihre Vergangenheit angeht, die sich ihr deutscher Freund Elias (Knut Berger), mit Hang zum Zuschreibungswahn, entsprechend zusammenreimt. Da gibt es dann genug Platz für altbekannte Klischees und Missverständnisse. Zwischen die Beiden schiebt sich der in Deutschland gestrandete und auf ein Visum für die USA wartende Palästinenser Sami (Thomas Wodianka). Er ist einer, der keine Milch von Kühen im Kaffee mag und auch ansonsten nicht viel auf Traditionen gibt. Cem (Dimitrij Schad) ist Türke, schwul, spielt Gitarre und mimt den Conférencier.
Armes Deutschland, kann da Elias Vater Horst (Tim Porath) nur noch von sich geben. Der Deutsche ist hier entweder provinziell verknöchert und stink konservativ oder hyperaktiv um Verständnis heuchelnd. Zumindest muss alles seine Ordnung haben und sich entsprechend einsortieren lassen. Elias kommt mit seinen Fragen allerdings nicht mehr weit. Er erliegt nach der Hälfte des Stücks den Folgen eines blöden Sportunfalls, und mit ihm auch die Lebenslust Maschas. Nach einem traumatischen Besuch in der ostdeutschen Provinz bei Elias Vater, der den Sinn des Lebens darin sieht, die vielen Kuckucksuhren seines Vaters aufzuziehen, über den er sonst auch nicht viel mehr weiß als über seinen Sohn Elias, verkriecht sich Mascha erstmal für Wochen mit dessen Spotshirt ins Bett. Dass sie da nicht ranzig wird, hat sie Cems Hartnäckigkeit und seinem Sinn für aufbauende Geschichten zu verdanken.
Über schlüpfrige Umwege kommt die sprach- und anderweitig begabte Mascha an ein Auslandsstipendium und damit schließlich nach Israel. Neues Land, neue Liebe, neues Leben. Erinnerungen an früher und allzu feste Wurzeln sind da nur noch hinderlich. Grjasnowas Roman ist ein schöne Beschreibung der bindungsarmen, zwischen den Welten switchenden Jugendlichen, die sich eigentlich nicht viel Gedanken über ihre eigentliche Identität und Heimat machen, diese aber trotzdem immer im Hintergrund mit sich herumschleppen und auch von der Gesellschaft hinterfragt bekommen. Die Inszenierung von Yael Ronen ist frisch, witzig, mit viel Situationskomik und macht definitiv Lust auf mehr.
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Ganz ähnlich geht es der jungen Protagonistin im Stück Schwimmen lernen der Dramatikerin Marianna Salzmann. Die Russin Lil (Marina Frenk) fühlt sich einsam in Deutschland. Sie träumt vom Meer in ihrer Heimat. Feli (Anastasia Gubareva) und Pep (Dimitrij Schad) dagegen sind ein Paar und halten sich für die beste Idee. Diese will aber auf Dauer nicht so recht zünden. Feli lernt Lil kennen und lieben. Angesteckt von Lils Idee vom Meer gehen beide schließlich nach Russland. Aber das Leben dort birgt andere Schwierigkeiten. Lil ist schnell genervt von den Kuchennachmittagen und Fragen der Verwandten, und Feli fügt sich schwer in ihren neuen Job ein. Der Alltag ist Gift für die junge Liebe und das Meer nur eine ferne Projektion.
Wieder ein schönes Stück über Sehnsüchte Jugendlicher nach Freiheit und Geborgenheit gleichermaßen. Vereinbar scheinen Beide auf Dauer nicht zu sein. Irgendwann ist Feli wieder weg und Lil im fremden Land auf sich allein gestellt. Hakan Savaş Mican inszeniert diesen zwischen Aufruhr der Gefühle und Melancholie schwankenden Lovesong auch als solchen. Die Darsteller singen immer wieder von Heimweh, Liebe und Liebesleid. Sie spielen dazu begnadet auf der Gitarre, dem Klavier oder trommeln sich die Seele aus dem Leib. Heiß her geht es, bis zum Schluss die Fenster geöffnet werden und die jungen Leute auf die Straße ausbrechen. Ganz großes Theater im kleinen neuen Studio Я, das in Zukunft auch unter der Leitung von Marianna Salzmann stehen wird.
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Köpfe (Bild 2) im Maxim Gorki Theater - Foto (C) Stefan Bock
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Gesamtbewertung:
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Stefan Bock - 12. Dezember 2013 ID 7459
DER KIRSCHGARTEN (Bühne, 04.12.2013)
Regie: Nurkan Erpulat
Bühne: Magda Willi
Kostüme: Ulrike Gutbrod
Musik: Sinem Altan / Tobias Schwencke
Licht: Norman Plathe
Dramaturgie: Daniel Richter
Mit: Tamer Arslan (Jascha), Mareike Beykirch (Dunjascha), Çetin İpekkaya (Firs), Marleen Lohse (Anja), Ruth Reinecke (Ranewskaya), Taner Şahintürk (Lopachin), Falilou Seck (Gajew), Aram Tafreshian (Trofimov), Sesede Terziyan (Warja), Mehmet Yılmaz (Simeonow-Pischtschik), Fatma Souad (Charlotta) sowie den MusikerInnen Özgür Ersoy und Sinem Altan
Premiere war am 15. November 2013
Weitere Termine: 25. + 31. 12. 2013 / 1., 9. + 10. 1. 2014
DER RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT (Bühne, 05.12.2013)
Regie: Yael Ronen
Bühne: Magda Willi
Kostüme: Esther Krapiwnikow
Video: Benjamin Krieg
Musik: Yaniv Fridel / Dimitrij Schaad
Dramaturgie: Irina Szodruch
Mit: Mehmet Ateşçí, Knut Berger, Anastasia Gubareva, Orit Nahmias, Tim Porath, Dimitrij Schaad und Thomas Wodianka
Uraufführung war am 16. November 2013
Weitere Termine: 23. + 26. 12. 2013 / 7. + 16. 1. 2014
SCHWIMMEN LERNEN (Studio Я, 19.11.2013)
Regie: Hakan Savaş Mican
Bühne und Kostüme: Sylvia Rieger
Musik: Enik
Video: Benjamin Krieger
Licht: Daniel Krawietz
Dramaturgie: Irina Szodruch
Mit: Marina Frenk, Anastasia Gubareva und Dimitrij Schaad
Premiere war am 17. November 2013
Weitere Termine: 20. - 22. 12. 2013 / 4., 17. + 18. 1. 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.gorki.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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