Narrative
der Benach-
teiligung
"Ostdeutsche Identität – Was ist das und wenn ja, wie viele?"
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Wie prägte der Verlust der Weltanschauung und der Sicherheit Ostdeutsche nach der Wende? Wurden Perspektiven für Ostdeutsche nach 1989 marginalisiert? Wo kommen Ostdeutsche heute eigentlich noch vor? Wo werden sie politisch repräsentiert? Woher kommt der Rechtfertigungsdruck, den viele Ostdeutsche spüren, wenn es etwa um aktuelle Geschehnisse in Sachsen geht?
Carolin Emcke sprach gestern mit der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Marianne Birthler, und den Autoren und Journalisten Christian Bangel und Jens Bisky in der Schaubühne über den Facettenreichtum ostdeutscher Identität. Unterschiedliche Generationen kamen bei der lebhaften Diskussion zu Wort.
Christian Bangel, politischer Autor bei Zeit Online, ist 1979 in Frankfurt an der Oder geboren. Er verbindet seinen ostdeutschen Hintergrund mit einer Angst vor dem sozialen Abstieg. Die grüne Politikerin Marianne Birthler ist Jahrgang 1948 und gebürtig Ostberlinerin. Wenn sie sich im Gespräch mit den Podiumsteilnehmenden als Ostdeutsche betrachtet, hat sie ambivalente Gefühle. Als Ostlerin nimmt sie bei sich unentrinnbaren Trotz und Stolz, aber auch Scham und einen inneren Kampf gegen eine gefühlte Zweitklassigkeit wahr. Jens Bisky, Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und ältester Sohn des bekannten Linken-Politikers Lothar Bisky, erblickte 1966 in der DDR das Licht der Welt. Er ist bei Zuschreibungen zurückhaltend und fühlt sich vor allem als Berliner. Bisky betont, dass er den Osten als ärmer, entchristlichter und ostdeutsche Frauen als emanzipierter wahrnimmt.
Die Podiumsteilnehmenden denken über ähnliche Erfahrungen, Praktiken und strukturelle Gemeinsamkeiten der Ostdeutschen nach. Ostdeutsche Identitäten verbinden sie mit einer Kultur der Zurückhaltung, der Bescheidenheit und des sogenannten Gerufenwerdens in der DDR. Es galt Berufungen abzuwarten, sich zu melden war ungelitten, so Marianne Birthler. Erfolg hing oftmals von Anpassungsfähigkeit ab. Modernisierungsprozesse oder Raum für Diskurse gab es nicht. Über 40 Jahre Unfreiheit prägte auch ein großes Misstrauen. Insbesondere Minderheiten hatten es in der DDR mitunter schwer, etwa Schwarze oder auch Jugendliche. Jens Bisky erklärt, dass es auch in der Homosexuellenszene etwa aufgrund des § 175 wenige schwule Rollenvorbilder gab: „Doch ich hatte vor allem Angst, in der DDR einen aufs Maul zu bekommen.“ Jens Bisky betont, dass viele ostdeutsche Männer sich nach dem Mauerfall bald kulturell entwertet fühlten. Ihre Heimwerkerfähigkeiten waren auf einmal weniger gefragt. Plötzlich gab es eine ganze Vielfalt an Angeboten. Marianne Birthler meint, dass Frauen in der DDR oftmals „ihren Mann zu stehen hatten“.
Mit der Gründung der DDR 1949 wurde die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in vielerlei Hinsicht als obsolet angesehen. Denn die Kommunisten galten ja als Erben der Antifaschisten und die Täter von damals waren auf einmal kein Thema mehr: „Wir waren die Guten. Hitler wurde auf einmal zum Westdeutschen“, so Birthler. Damit stabilisierten sich rechte Strukturen im Osten Deutschlands, die sich heute teils in der antidemokratischen Gewaltbereitschaft der Querdenker wiederfinden.
Aufgrund von Fehlern der Treuhand wurde mit der Einheit eine Chance der Selbstermächtigung vertan, konstatiert Bisky. Während der Gesellschaft Kosten angelastet wurden, wurden so Gewinne privatisiert. Das ist heute vielfach eine Ressource für rechte Erzählungen, so Emcke. Denn die Erfahrung der Benachteiligung und ökonomischer Ungleichheit ist ein Kernnarrativ. In der Diskussion wurden Fehlentwicklung während der Wiedervereinigung leider nicht als Folge schwerwiegender politischer Fehlentscheidungen der damaligen CDU/FDP-Bundesregierung hinterfragt, etwa der Währungsumtausch und die Einrichtung der Treuhand. Birthler problematisiert, dass heute eine Solidarisierungswelle für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Osten fehle. Neonazi-Strukturen oder Querdenker-Demos erstarken, weil eine Opfermentalität der zu kurz gekommenen gepflegt werde. Nicht erwähnt wurde in dem Gespräch, dass sich Menschen bereits in der ehemaligen DDR gegenüber Zugewanderten benachteiligt fühlten. Es wurde staatlicherseits Völkerverständigung und Willkommenskultur proklamiert, während eine Integration im Lebensalltag nicht stattfand. Und wenn für afrikanische Zuwanderer an einem Tag exklusiv ein Kaufhaus zur Selbstbedienung geöffnet wurde, dann schürte das den Neid der Einheimischen, die sich viele Produkte selbst organisieren mussten.
Gegen Ende öffnet sich das Podium auch Publikumsfragen im Theatersaal. Gemeinsam mit den Zuschauern überlegen Emcke und ihre Gäste, was sich in Ostdeutschland ändern müsste, um dem Rechtsruck entgegenzuwirken. Bangel betont, dass der Osten mehr Zuzug erleben muss, um eine demographische Verzerrung einzudämmen. Bisky hebt hervor, dass Institutionen wie Gewerkschaften gestärkt werden müssten. Emcke pocht auf eine stärkere Erbschafts- und Vermögenssteuer, um neue Ressourcen für gesellschaftliche Angebote zu schaffen. Birthler erzählt von ihrer Beteiligung bei einem mehrmonatigen Bürgerrat, wo Teilnehmende ihre Einstellung zur Politik änderten. Berufspolitiker müssten solche Angebote ernster nehmen. Sie hebt auch die Rolle von Kunst und Kultur hervor, die durch Bücher und Filme Bürgern stets neue Interpretationsangebote schaffe. Doch bei aller Transformationskompetenz der intellektuellen Podiumsteilnehmenden kommt es stets darauf an, Bürger mitzunehmen und ihnen neue Perspektiven zu geben. Ein anregender Sonntagmittag.
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Carolin Emcke (2.v.li.) mit Ihren Gästen im STREITRAUM der Berliner Schaubühne am 16. Januar 2022 | Foto: Ansgar Skoda
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Ansgar Skoda - 17. Januar 2022 ID 13406
https://www.schaubuehne.de/de/seiten/streitraumkonzept.html
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