Verwesende Hasen
PARSIFAL durch Christoph Schlingensief
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Bayreuth, Bahnhofstraße, H. Tscheitschonig's Zeitschriften-, Papier- und Schreibwarengeschäft: Die Schaufensterauslage wird von einer ausladenden Fotogalerie mit nummerierten und sonach bestellbaren Schnappschüssen von der Eröffnungsvorstellung des diesjährigen Festspielsommers (Tristan und Isolde) überdeckt. Zu sehen sind da allerdings nicht etwa Szenenbilder aus der neuen Produktion von Christoph Marthaler und Anna Viebrock, sondern unzählige Leute die man schlechthin als die sogenannten Oberen Zehntausend, also Promiluders und Politiker, bezeichnet, und sie bieten sich mit ihrem Breitwandlächeln feil - die Klatscher und die Beifallsspender immer mit im Bilde, mittenmang; man kann an ihnen nicht vorbei, sie sind der provinziellste Marktanteil an dieser ausnahmsvoll gestylten Stadt; man riecht hinfort ihre Parfums, man hört ihr dialektgeschwängertes Gewäsch; nein, es gibt kein Entrinnen, weder vor noch nach dem eigentlichen Akt privatesten Erlebens ganzheitlicher Wagnerkunst, man fühlt sich irgendwie doch eingekesselt von den Herrschaften, alles in Allem - sie! sie stehen monolithisch für das nackte Grauen!! Angst empfindet man als Fremder in der Stadt!!!
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Um diese Art von Mythos zu begreifen, sollte man sich dieses quasi innerstädtisch ansässigen Gros' des Festspielpublikums - einer "Gemeinde" (nämlich der aus klein- und mittelständischen Mäzenen bestehenden sogenannten Gesellschaft der Freunde von Bayreuth) - vor Augen halten; sie scheint doch das eigentliche Hauptproblem der Jahr für Jahr herbeigeredeten oder -gewünschten Führungskrisen innerhalb der Festspielleitung auszumachen; und es hat schon Witz, wenn Christoph Schlingensief ihr in Gestalt eines im Zeitraffer bis in die wimmeltolle Madigkeit verwesten Osterhasen ganz am Schluss seines zusammengepuzzelten Parsifal ein kaumhin appetitanregendes und umso mehr sie zu den allerhörbarsten Tiraden hasserfüllter Abneigung geradezu herausforderndes Denkmal setzte: Sie, diese "Gemeinde", ist der absolute Brechreizspender einer wie auch immer szenisch andersartig als "wie früher" herkommenden Inszenierung auf dem Grünen Hügel.
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Ein für alle Mal: Die revolutionäre Großtat Wolfgang Wagners, seit er nach dem Ableben von Bruder Wieland das Geschäft allein besorgte und besorgt, besteht im Zulassen der anderen und neuen Stile als sie halt "vorher", vor/nach dem Zweiten Weltkrieg, üblich waren; und er hat die Festspiele tatsächlich grunderneuert, nicht zuletzt und insbesondere auch und vor allem durch Verpflichtungen von Filmemachern, Schauspielleuten und Dramatikern (Chereau, Herzog, H. Müller, Schlingensief, Marthaler, Dorst). Das hat dem Laden immer wieder gut getan und hat das Unternehmen, bis auf heute, kontrovers und Frucht bringender Weise aufgefrischt.
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In diesem Jahr ist Alfons Eberz Schlingensiefs Protagonist im Parsifal. Er schlägt sich tapfer an der Seite von Michelle DeYoung (Kundry). Den Beiden bei der Arbeit zuzusehen/zuzuhören, macht schon Freude und Genuss. Ja, dem Vernehmen nach hätte ihr Regisseur im Zweiten Aufzug szenisch nachgelegt. Der Ort der Handlung (Klingsors Zauberreich) ist, wie schon letztens, in ein afrikanisch anmutendes Camp mit ethnischen Besonderheiten - ingwerwurzeltragender Häuptling, üppig anmutende Frauen mit überdimensional ausladenden Hüften usw. - umverlegt; und man ist fürderhin geneigt gewesen, Kundrys Aufklärerbericht über Geburt, Kindheit und Herkunft ihres Schützlings (Parsifal) mit ganz ganz andern Augen als bisher zu sehen, sehr ironisch-bodenständig, weil: Im Hintergrund lässt Schlingensief die Dame Herzeleid (Parsifals Mutter) mit dem Bankert und den Männern außerhalb des Sohnes locker und verschiedentlich verfahren. Und die alles entscheidende Kussszene geht dann in etwa so: Die beiden Zungen (Parsifals und Kundrys), grenzwändig voneinander getrennt, finden dann letztlich durch ein Durchsteckloch, so wie man es von sog. Darkrooms aus der Schwulenszene kennt, zusammen. Klingsor ist die ganze Zeit dabei, bereitet seinen Stamm und seine Stammesmitglieder zur Hochzeitsfeier vor - beeindruckend das Outfit des John Wegner, der sich seinen ganzen Körper rabenschwarz einfetten lassen musste und dem man diese Tortour nicht anmerkte, so leidenschaftlich-lustvoll singt/agiert auch er!
Die Anderen nicht minder stimmlich imposant und vollends bei der Sache: Robert Holl (Gurnemanz) und Alexander Marco-Buhrmester (Amfortas) beispielsweise. Festspielchor und Festspielorchester stehen unter der Leitung von Pierre Boulez, der nächste Spielzeit leider nicht noch einmal dirigieren will. Und wer hält dann zu Schlingensief?
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Andre Sokolowski - 29. Juli 2005 http://www.andre-sokolowski.de ID 1980
Weitere Infos siehe auch: http://www.bayreuther-festspiele.de
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