Wagner, Wagner und kein Ende... (200. Geburtstag)
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28. April 2013, Premiere in der Staatsoper im Schiller Theater
DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
Eine Produktion des Theater Basel (2009)
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Kopfgeburt der Bücherwurmin - Der fliegende Holländer (Michael Volle) in der Philipp-Stölzl-Inszenierung des Theaters Basel, die so derart gut geraten ist, dass sie die Staatsoper im Schiller Theater nach Berlin herüberhievte... / Foto (C) Matthias Baus
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Schon im Biedermeier muss es manisch-depressive Menschen gegeben haben. Senta (aus dem Fliegenden Holländer von Richard Wagner) kann da wohlgetgrost als Beispiel herhalten:
Sie liest sehr viel. Die Riesenbibliothek von ihrem Vater - einem allen Anschein nach gebildeten Spezialvertreter einer Seekaufleutegattung, deren Exklusivmitglieder es zu materiellem Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung brachten - bietet Lesefutter noch und noch. Wenn Senta also über eine übergroße Spitzweg-Bücherleiter hoch zur allerletzten Bücherreihe langt, stößt sie nicht unvermittelt auf ihr Lieblingsbuch; hierin lässt sich die legendäre Holländer-Ballade nachvollziehen, was dann Senta manisch-tatkräftig (halt innenweltlich) tut und immer wieder tut und tut. Jedoch ereilt sie, jedesmal nach der sie so beglückenden Lektüre, eine depressive "Gegenstimmung", und so fällt sie nach und nach dann immer wieder in das so von ihr gefürchtete tief-schwarze Loch... Sie will an nichts (halt außenweltlich) teilhaben, sie will nur noch die Holländergeliebte sein. / Emma Vetter sehen wir, bereits zur Ouvertüre, nur im Unterzeugs und mit weit ausgespreizten Schenkeln sich in ihrer Schwarte hocherwatungsvoller Weise suhlen.
Daland (= Senta-Vater) muss vor Jahren mal ein raumsprengendes See-Gemälde eingekauft oder erhandelt haben - jetzt prangt es als Riesen-Horror-Sichte "von der Wand" der Bibliothek. Beim Anblick eines solchen Riesenschinken kommen höchstwahrscheinlich die absonderlichsten Angstgefühle auf; und Senta hatte es mit diesem Ding, schon als sie noch Kleinsenta war, ein Leben lang zu tun. So was verbaut den wahrheitlichen Horizont, und die reale Außenwelt scheint (so gesehen) nicht mehr sichtbar. // Philipp Stölzl sowie Conrad Moritz-Reinhardt haben sich die Bühne miteinander ausgedacht; der Stückverlauf zeigt nach und nach, dass das Zentralgemälde justament als Sentas "Kinoleinwand" dient, ja mehr noch, dass aus ihm die schon besagte Senta-Innenwelt in Sentas Außenwelt verkörperlicht und verlebendigt bricht. /// Und überhaupt trägt das gesamte Personal stilechte Biedermeier-Kluft (Kostüme: Ursula Kudrna); also es geht auch völlig "unmodern", wenn das Konzept erst einmal stimmt!
Regie-Lieblingsstar Philipp Stölzl!! Und obwohl uns seine Orpheus in der Unterwelt-Gesichtung - Stölzls Staatsopern-Debüt (2011) - mitnichten überzeugte.
Mit der Übernahme seines Basler Holländers (2009) - und somit wäre an der Spree die mittlerweile dritte Wagner-Produktion von ihm im aktuellen Spielplan der Berliner Opernstiftung; Rienzi als wie Parsifal befanden wir bereits als eingestuft-genial - kann sich die Deutsche Staatsoper hochglücklich schätzen. Jürgen Flimm (falls die Idee von ihm ausging) hatte da weit gedacht und weise obendrei, denn: Kaum mehr vorstellbar, dass andern Machern eine (nicht einmal im Ansatz) "gleichwertige" Sache eingefallen wäre; von dem szenisch-naseweisen Bayreuth-Holländer des letzten Jahres, nur so zum Vergleich, wollen wir lieber nicht mehr reden...
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Stölzl hatte die - nach unserem Dafürhalten - folgende nicht zu überbietende Zentralidee:
Senta kriegt durch Daland (Tobias Schabel) einen aus der Kaufmannszunft stammenden Bräutigam (Ronald Ries) zugeteilt. Mit dem verbringt sie eine stumme Dialog-Zeit in der väterlichen Bibliothek; der Bräutigam steckt sich eine Zigarre an, die zugeteilte Braut hat wieder eine ihrer balladesken Anwandlungen - währenddem zeigt uns die Kinoleinwand (= das Gemälde), was dem Wagner eigentlich dann mit dem ellenlang gesung'nen Dialog zwischen der Senta resp. ihrem Double (Roxana Clemenz) und dem Holländer (dem phänomenalen Michael Volle!) vorschwebte, also: Senta singt "von innen" mit dem Holländer "im Außen"... / Schnitt mittels Matrosenchor: Besoffene einschl. der besoffnen Senta und ihres besoffnen Bräutigams bevölkern vollmundig die Bibliothek. Die Masse mobbt das Braut-Opfer und lacht sich über ihren greisen Angegtrauten krumm und schief. Plötzlich verliert die Braut (= Senta) die Fassung und geht mit der Flasche auf den Bräutigam und ihren Ex-Verlobten (?) Erik (Stephan Rügamer) los; es fließt Blut... Noch mehr vom roten Saft ganz, ganz am Schluss: Senta schlitzt sich mit einer Flaschenscherbe ihre Kehle auf; Blut fontäniert aus ihrer Halsschlagader. // Holländer hat sich inzwischen kinomäßig längst wieder verdünnisiert. ///
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Staatsopernchor und Staatskapelle singen/spielen unter Leitung Daniel Hardings, der zum ersten Male im Orchestergraben der Berliner Staatsoper als Gast verweilte und das Musikalische des szenisch aufwühlenden Abends unspektakulärer als man ahnen wollte durchgestaltete - da hätte man auch (dirigentenmäßig) sparen können.
Nach dem nicht viel mehr als ambitionierten Ring-Kraftakt der letzten Jahre ist der Basler Holländer - gottlob - die Rettung für die Staatsoper im hoffentlich dann bald mal wieder ausklingenden Wagner-Jahr.
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Emma Vetter (Senta) - unglücklich als Kaufmannsbraut / Foto (C) Matthias Baus
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Andre Sokolowski - 29. April 2013 ID 6711
DER FLIEGENDE HOLLÄNDER (Staatsoper im Schiller Theater, 28.04.2013)
Musikalische Leitung: Daniel Harding
Inszenierung und Bühnenbild: Philipp Stölzl
Co-Regie: Mara Kurotschka
Bühnenbild (auch): Conrad Moritz Reinhardt
Kostüme: Ursula Kudrna
Licht: Hermann Münzer
Chor: Eberhard Friedrich
Dramaturgie: Brigitte Heusinger
Besetzung:
Daland ... Tobias Schabel
Senta ... Emma Vetter
Erik ... Stephan Rügamer
Mary ... Simone Schröder
Der Steuermann Dalands ... Peter Sonn
Der Holländer ... Michael Volle
Premiere am Theater Basel war am 18. Januar 2009
Berliner Premiere: 28. April 2013
Weitere Termine: 1., 4., 10., 16., 19., 22. 5. 2013
Eine Produktion des Theater Basel
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsoper-berlin.de
http://www.andre-sokolowski.de
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