Dionysisches
Gesamtkunstwerk
KRIEG IM SERTAO von Zé Celso mit dem Teatro Oficina
|
Mit Schlagzeilen wie "Porno-Orgie" oder "Großes Publikum-Beschmieren" taten sich vor Wochen bürgerliche Schmuddel-Zeitungen über ein wahrlich Aufsehen erregendes Gastspiel des brasilianischen Teatro Oficina an der Berliner Volksbühne ereifern. Und man kreischte doch bloß über eine ewighin fragil wie fraglich funktionierende Art Besserungsanstalt der Zivilisation: nämlich Theater, was sich freilich denn viel lieber auf- statt zugeknöpft dem Publikum zu präsentieren in die Pflicht genommen sieht, will es in dieser Richtung (also nicht nur "Besserung", auch "Unterhaltung" meinethalben), irgendwas bewirken. Gut nur, dass es die Kollegen von der Sudelzunft letztendlich doch nicht ganz bishin zum Schlussteil dieses auf vier Tage aufgeteilten 24stündigen Total-Theaters interessen- oder kräftemäßig schafften. Denn dann hätten sie noch viel viel mehr an "Anklagbarem" Grund zu schreiben finden können: beispielsweise dass ein Jüngling live und richtig (!) onanierte, bis es ihm tatsächlich springfontänenmäßig kam, oder dass sieben Frauen, sternenförmig auf dem Boden liegend, ihre Schenkel bis zur rosaroten Innenblüte auseinanderspreizten ...
|
(C) Teatro Oficina
|
Doch zum eigentlichen Gegenstand dieser der deutschen Biedernis so typisch dummdreistdeutsch verhafteten Erregungswelle: Denn gezeigt wurde Zé Celso's über allen Zweifel erhabene und allumgreifend sensationelle Spielfassung vom Krieg im Sertao, einem 700seitigen Essay des hier zu Lande weniger bekannten Kriegsberichterstatters Euclides da Cunha, welcher wiederum in seinem Herkunftsland einen geradezu sakralen Status inne hat; Studiosus-Reisende gelangen, falls sie wünschen, an die Stätten von Geburt und Leben dieses Schreibers.
Worum gehts?
Im dornigen Sertao, einer viel zu trockenen Savanne, hatten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein paar zehntausend geflohne Sklaven, Schwarze, Indigenas, halt die Ärmsten aller Armen, angesiedelt. Und sie weiteten ihre erbauten Lehmhütten zu einer Kleinstadt und bestimmten Conselheiro, einen zufällig vorbeivagabundierten und dem Wahnsinn nahen Wanderpriester, justament zu ihrem Anführer. Ihr (also sein) Gebilde kriegte das dazugehörige Gesicht; Autonomie erwuchs zu Anarchie. Ein renitenter Staat im Staate also war gegründet worden, was die herkömmlichen Herrschenden (Brasilien galt zu dieser Zeit als junge aufstrebende Republik) in ihrem nationalen Selbstverständnis nie und nimmer hätten dulden können, und so kam was kommen musste. Diese unbändigen "Wilden" wurden 1897 - in der legendären Schlacht um Canudos - durch eine bollwerkhafte Übermacht von 12000 Soldaten bis auf Mann und Mäuschen massakriert ... und aus der Traum vom Armen-Himmelreich auf Erden!
Doch Legenden leben ja bekanntlich fort.
|
(C) Teatro Oficina
|
Die Volksbühne - wo wenn nicht hier hätte ein solcher Gastspielauftritt in Berlin ermöglich werden können!!! - wurde zweckdienlich entkernt. Vom Rang erstreckte sich eine unendlich weit scheinende breite Piste, die aus Ton- und Lehmziegeln bestand, übers Parkett bis hin zum Bühnenhintergrund; seitlich von ihr vier provisorische Tribünen für die Zuschauer. Die mehr als 50 auf der Piste hin und her sich fortbewegenden und musizierenden und tanzenden und schauspielernden "Stammakteure" des Teatro Oficina (Kinder, Pubertierende, Erwachsene und eine sehr berühnmte [namentlich aus dem Programmblatt leider nicht herauslesbare] Greisin) waren also immer mittendrin im Publikum. Und wiederum so der Art nah, dass es zu körperlicher Austauscharbeit beiderseitig kam. Sie ließen sich "von uns" berühren und berührten "uns" zugleich wieder zurück. Das duftete, und das war Herzschlag fassend williges (freiwilliges) erotisches Gebaren. Und man konnte alles das, und also auch sich selbst, auf jeweils einer der vier Videoleinwände über den Sitzpodien entdecken, falls der Blick nach oben schweifte ... weil der schönste aller schönen Videofilmer dieser wohl aus lauter jugendlichen oder jungbleibenden Berserkern bestehenden Theatertruppe immer und zu jeder Zeit, geschickt wie unauffällig, regen Anteil an Gesicht und Gestus seiner projizierten "Opfer" nahm. Wie dieses animalisierte Treiben insgesamt dann einem schieren Opferfest des Dionysos glich - sieht man von den viel längeren und ausufernden Sprech- und Chorszenen (noch öfter wurde erstklassig gesungen und noch viel viel erstklassiger auf den mitgeführten Instrumenten aufgespielt) zum Grundverständnis des Gesamtgeschehens einmal ab.
|
(C) Teatro Oficina
|
Ze Celso hat das einmalige Kunststück einer Eins-zu-Eins-Umsetzung dieses von ihm selbst gewählten Urtextes vollbracht. Ja und noch ehe überhaupt die diesem Großwerk seinen Namen gebenden Haupthandlungen vom Krieg im Sertao (gesteigert eben in der legendären Schlacht um Canudos) beginnt, wird brasilianische Natur, Geschichte und Befindlichkeit in einem so noch nie gesehenen, gehörten und erlebten Kosmos voller Bilder, Töne, Eindrücke (das Publikum war also ständig animiert am Spielen teilzuhaben; und es funktionierte!) aufgeblättert.
Und vielleicht lässt sich am Ende dieses clownoresken nachhaltigsten Urlerlebnis', was dem Rezensenten dieser Zeilen jemals widerfuhr, die Sache so zusammenfassen: Dass Theater in der Tat befähigt war und ist, Distanzen zwischen Dir und Mir der Aufhebung anheimzustellen, unbestreitlich! ja, zum Raum wurd' da die Zeit!!
|
Andre Sokolowski - 25. September 2005 www.andre-sokolowski.de ID 2040
KRIEG IM SERTAO (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 25.09.2005)
von Zé Celso nach Euclides da Cunha
Mitwirkende:
Adao Filho, Adriana Capparelli, Anna Guilhermina, Aury Porto, Camila Mota, Danilo Tomic, Felix Oliveira, Fioravante Almeida, Fransergio Araujo, Freddy Allan, Gal Quaresma, Haroldo Costa Ferrari, Leticia Coura, Lucas Braguirolli, Luciana Domschke, Marcelo Drummond, Mariana de Moraes, Mariano Mattos, Patricia Aguile, Pedro Epifanio, Ricardo Bittencourt, Salvio Prado, Samuel Costa, Sylvia Prado, Vera Barreto Leite, Wilson Feitosa jr., Zé Celso Martinez Correa und Zé de Paiva sowie Renné Gumiel, die Kinder Ariclenes Barroso, Edna Dos Santos, Edisio Dos Santos, Edilson Dos Santos, Elenildo de Moura (Uga), Francisco Rodrigues und Jaqueline Braga als auch die Musiker Adriano Salhab, André Lagartixa, Daniel Camilo, Guilherme Calvazara, Ito Alves, Karina Buhr und Otavio Ortega
Gastspiel des Teatro Oficina
Weitere Infos siehe auch: http://www.teatroficina.com.br
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|