22. März 2014 - Thalia Theater Hamburg
FRONT
Polyphonie nach IM WESTEN NICHTS NEUES von Erich Maria Remarque, LE FEU von Henri Barbusse und Zeitdokumenten
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(C) http://www.thalia-theater.de
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In diesem Sommer jährt sich zum einhundertsten Mal der Beginn des Ersten Weltkriegs. Österreich/Ungarn und das verbündete Deutsche Kaiserreich erklärten Ende Juli/Anfang August 1914 Serbien, Russland und Frankreich den Krieg. Großbritannien stieg wenig später an der Seite der Entente in die Kämpfe gegen Deutschland ein. Von Europa ausgehend entfachte das den ersten Weltenbrand, auch bezeichnet als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, in dessen Verlauf bis 1918 rund 17 Millionen Menschen den Tod fanden. Die Theater haben bisher noch recht zurückhaltend auf dieses Ereignis reagiert. Lediglich am Staatsschauspiel Dresden kam es in der Regie von Wolfgang Engel zur Premiere des eigentlich als unspielbar geltenden Stücks Die letzten Tage der Menschheit des Österreichers Karl Kraus. Selbiges war auch am Burgtheater Wien geplant. Nach der Entlassung von Burgdirektor Michael Hartmann könnte das aber schwierig werden. Die koproduzierenden Salzburger Festspiele suchen nun nach einem Regie-Ersatz in Sachen österreichisches Weltkriegsgedenken.
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„Wir haben den Krieg nicht gewollt, die andern behaupten dasselbe - und trotzdem ist die halbe Welt fest dabei." heißt es im vielleicht bekanntesten Weltkriegsroman Im Westen nichts Neues, geschrieben Ende der 1920 Jahre vom deutschen Schriftsteller Erich Maria Remarque. Als französisches Pentand zu Remarqus Kriegs-Zeugnis dürfte der bereits 1916 noch zu Kriegszeiten erschienene Roman Le Feu (dt. Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft) des Schriftstellers Henri Barbusse gelten. Beides sind detailgetreue Schilderungen des nervenaufreibenden, verlustreichen Stellungskrieges an der Westfront aus Sicht der einfachen Soldaten. Beide Bücher beruhen dabei auf Tatsachenberichten. Barbusse hatte seine eigenen Kriegserlebnisse in Form eines Fronttagebuches niedergeschrieben. Remarque größtenteils Erfahrungen anderer Kriegsteilnehmer notiert. Am Thalia Theater Hamburg verschneidet Hausregisseur Luk Perceval in Koproduktion mit dem belgischen Stadttheater NTGent nun beide Romane miteinander und reichert das Ganze mit weiteren Zeitdokumenten wie Briefen und Tagebucheintragungen an.
Perceval, selbst Belgier, inszeniert in seiner Produktion FRONT auf fast leerer Bühne eine Art polyphonen Katastrophen-Sound des Krieges aus den Stimmen des in vier Sprachen sprechenden gemischten Ensembles sowie Geräuschen und musikalischen Einlagen der Schauspieler. Dieser Sound hat laute und leise Töne, wechselt von der ungewissen Warteposition der Soldaten im Graben, mit Stimmungsprotokollen und Einzelberichten, in die unkontrollierte Aktion des Sturms. Was zunächst sehr artifiziell klingt, entwickelt im Laufe des zweistündigen Abends aber tatsächlich eine Art Klangrausch, der einen bannen will und so in einen kollektiven, vielstimmigen Gedankenstrom zu ziehen versucht. Wenn man sich diesem ergibt, bekommt der zunächst wie eine szenische Lesung auf zumeist dunkler Bühne wirkende Abend doch noch einen, wenn auch minimalen Spannungsbogen. Man kann dem Erzählstrom aber auch einfach nur so folgen, die Zusammenhänge ergeben sich aus den geschickt zusammengeschnitten Roman- und Brieffetzen wie von allein.
An der Rampe aufgereiht sitzen die Darsteller vor Notenständern, Kerzen erhellen spärlich die Szenerie. „Die Front ist ein Käfig, in dem man nervös warten muss auf das, was geschehen wird. (…) Über uns schwebt der Zufall.“ Bernd Grawert spricht die Sätze des jungen Soldaten Paul Bäumer aus Remarques Roman. Sie werden zum roten Faden der Inszenierung. Das Ensemble wird die ganze Zeit gemeinsam auf der Bühne verbringen, eingepfercht auf engem Raum wie die Ratten im Graben aus ihren Berichten. „Eine Familie ohne Verwandtschaft“, wie es in Barbusse Le Feu heißt. Wenig Aktion, nur leiser mikrofonverstärkter Erzählton, der von erstem nationalen Hochgefühlen kündet, von der Neugier auf den Feind. Man singt Kein schöner Land, dagegen wird von den anderen ein französischen Lied angestimmt. Dann erreicht sie das reale Leben an der Front mit der Ungewissheit und Angst vor dem Tod, den Klagen über schlechte Verpflegung und fehlendes Material.
Im Hintergrund der Bühne hängt eine wandhohe Installation aus Stahlplatten von Percevals bevorzugter Bühnenbildnerin Annette Kurz, die vom Musiker Ferdinand Försch bearbeitet wird. Er streicht mit dem Bogen schlägt die Platten und erzeugt so mal schwirrende, mal düster dreuende Töne. Wie Geschützdonner, wenn die Soldaten zum Angriff übergehen, oder kreischend, wenn ein Verwundeter schreit. Wie in Trance drehen sich die Männer beim Sturm aus dem Graben. Die Frauen, als ihre Mütter, irren verstört über die Bühne. Verzweifelt umklammern sich Bernd Grawert und Peter Seynaeve in der Szene, in der Paul Beumer im Granattrichter den belgischen Korporal Van Outryve ersticht. Für das deutsche Ohr dominieren hier sicher die bekannten Passagen aus Im Westen nichts Neues etwas zu sehr. Aber auch Berichte von schwadronierenden Vorgesetzten, Heimurlauben, Schilderungen von toten Soldaten, Krankheiten und Selbstverstümmelungsversuchen Verzweifelter ähneln sich hier wie dort.
In weiteren Erzählsplittern berichtet eine englische Krankenschwester (Oana Solomon), deren Verlobter bereits gefallen ist, von ihrer schweren Arbeit im Lazarett. „It's impossible to be a woman here.“ Der belgische Lieutenant De Wit (Steven van Watermeulen) verflucht die vermeintliche Untreue seiner Frau und sucht Vergessen im Krieg. Immer wieder werden Briefe von Soldaten und Müttern gelesen. Was alle eint, ist die Kriegsmüdigkeit und der Fatalismus, aber auch die Gewissheit, dass das irgendwann enden muss. Es kulminiert in einem vielsprachigen Stimmengewirr, das anschwillt, wieder abebbt und wie die Kerzen am Ende verlischt. Ein Meditation über die sich schier endlos wiederholende Eintönigkeit des Lebens an der Front auf allen Seiten, mit seinen unfassbaren Schrecken und Leiden, die die einen abstumpfen lassen und andere in den Wahnsinn treiben.
Nun ist Perceval nicht etwa auf der Suche nach den Ursachen des Krieges. Der spätere Kommunist Barbusse nennt an einigen Stellen seines Romans doch etwas klarer Ross und Reiter. Diese Passagen fehlen in Percevals Zusammenschnitt. Ihn interessieren mehr das persönliche Erleben und die individuelle Wahrnehmung der schrecklichen Ereignisse. Wenn man so will, hat der Abend dabei sogar etwas Therapeutisches. Durch das Erzählen werden die Geschehnisse im Nachhinein zu einer Art kollektiven, grenzüberschreitenden Erfahrung. Ein Erkennen der Gemeinsamkeiten und Verarbeitung des auf allen Seiten erlittenen Traumas hin zu einer gemeinsamen Ächtung jeglicher militärischer Art der Auseinandersetzung. Eine rein pazifistische Sicht. Und was bereits an Remarques Roman kritisiert wurde, politisch keine konkrete Stellung zur Vermeidung von Kriegen einzunehmen, kann man natürlich auch Luc Perceval vorhalten. Es kommt letztendlich hier wieder auf den Einzelnen an, aus kollektiv erfahrener Geschichte die richtigen Schlüsse zu ziehen, um kriegerische Auseinandersetzungen in Zukunft verhindern zu können.
Bewertung:
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Stefan Bock - 24. März 2014 ID 7702
FRONT (Thalia Theater Hamburg, 22.03.2014)
Regie: Luk Perceval
Live-Musik: Ferdinand Försch
Bühne: Annette Kurz
Kostüme: Ilse Vandenbussche
Musik: Ferdinand Försch
Video: Philip Bußmann
Licht: Mark Van Denesse
Dramaturgie: Christina Bellingen und Steven Heene
Besetzung:
Patrick Bartsch (Albert Kropp)
Bernd Grawert (Paul Bäumer)
Burghart Klaußner (Stanislaus Katczinsky)
Benjamin-Lew Klon (Müller)
Oscar van Rompay (Emiel Seghers)
Peter Seynaeve (Korporal Van Outryve)
Steffen Siegmund (Rekrut)
Oana Solomon (Engl. Krankenschwester, Mutter Bäumer)
Katelijne Verbeke (Mutter Seghers)
Steven van Watermeulen (Lieutenant De Wit)
Gilles Welinski (Kolonel Magots)
Uraufführung war am 22. März 2014
Weitere Termine: 29., 30. 3. / 1., 25. 4. / 1., 2., 26. 5. / 21., 28., 29. 6. 2014
Eine Koproduktion mit dem NTGent
Weitere Infos siehe auch: http://www.thalia-theater.de
Post an Stefan Bock
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