30. November 2013 -Ballhaus Naunynstraße
ICH RUFE MEINE BRÜDER
von Jonas Hassen Khemiri
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Das ist Jerry Hoffmann, der im Stück Ich rufe meine Brüder die Hauptrolle spielt - Foto (C) Rebecca Sampson
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Kaum zu glauben, dass Jerry nur spielt. Dass Ich rufe meine Brüder nicht sein Stück ist. Von ihm komponiert und arrangiert auf den Pfaden der Verwandlung von Erfahrung in Kunst.
„Das ist der Heißeste zurzeit“, sagt im Publikum eine über Jerry Hoffmann. „Der klebt überall in der Stadt. Und wie der sich bewegen kann.“ So manga-magisch auf dem schmalen Grad zwischen Kung Fu und konfus. Sein Alter ego heißt Amor. Ich rufe meine Brüder ist eine Einladung, in Amors Kopf Platz zu nehmen wie in einem japanischen Hochgeschwindigkeitszug. Amors Innen- und Außenwelten werden zudem erzählt auf einer Bildstrecke. Die Zeichen flashen die Bühne. Die Bühne flackert wie ein Tanzboden.
„Da ist gestern so ein krankes Ding passiert. Habt ihr gehört? Ein Mann. Ein Auto. Zwei Explosionen. Mitten in der City. Ich rufe meine Brüder an und sage: Nein, niemand wurde gefasst. Niemand verdächtigt. Ich rufe meine Brüder an und sage: Jetzt geht’s los.“
Macht euch unverdächtig, verschmelzt mit der City: das rät Amor den Brüdern am Tag nach dem Selbstmordanschlag in Stockholm 2010. Er ist ganz und gar Familienmensch und als ältester Bruder ein Mann für alle Fälle. Der Attentäter starb, zwei Passanten wurden verletzt, Amor will für Verwandte einen Bohrkopf umtauschen. Eigentlich möchte er dem Angestellten im Kaufhaus seines Unbehagens einen gebrauchten Bohrkopf für einen neuen andrehen. Mit fadenscheiniger Begründung. Der gebrauchte Bohrkopf sei schon defekt gewesen als er so gut wie neu noch war. Der Angestellte entpuppt sich als schwere Enttäuschung. Immer wieder ruft ein ziemlich bester Freund an, ein Zurückgebliebener im Viertel der räumlichen Herkunft. Jan Walter spielt Shavi als Kumpel mit Kind. Seine Sensationen sind von der Art der ersten Banane, die im Nachwuchs Eingang findet. Von Spannung keine Spur, sagt sich Amor da. – Und verweigert die Annahme.
Das Periodensystem dient Amor zur Einteilung der Zeitgenossen. Shavi war Helium, „macht alles leichter“, bevor er Vater und langweilig wurde. Die Explosion der Autobombe hat in Stockholm Schockstarre ausgelöst, doch die „brüderliche“ Choreografie gehört der getanzten Kampfkunst. Amor reagiert paranoid auf die Paranoia der weißen Gesellschaft. Er ist nicht weiß, das reicht für verdächtig.
Ich rufe meine Brüder stammt von Jonas Hassen Khemiri. Der Autor hat sich Amor ausgedacht als einen Helden der Einbildungen. Nie ist sich Amor sicher, ob die Schecks seiner Wahrnehmung gedeckt sind. Ich glaube, das gehört zu den migrantischen Grunderfahrungen. Die Fremdwahrnehmung aus der Mehrheitsgesellschaft funktioniert nicht positiv als soziales Korrektiv. Sich daran zu orientieren, an sich ein ganz normaler Vorgang der Anpassung, hieße: sich mit Vorurteilen zu vergiften. Die Orientierungslücke wird von der Phantasie geschlossen: genau das erzählen die „Brüder“ Khemiris.
Amor hat eine Vergangenheit als Stalker, nur sieht er das wieder ganz anders in seiner Anderswelt. Die terrorisierte Valeria (Marion Reiser) kann dem eloquenten Charmebolzen die Wirklichkeit nicht nahebringen. Er glaubt, die Zeit sei einfach nicht reif dafür, dass sie, die ihn aus dem Sandkasten kennt, sich die Finger nach ihm leckt. Das wird schon noch, ist Amor sich selbst gefällig. Valeria geht putzmunter unter die Decke. So viel Ignoranz könnte man mit dem Vorwurf der Arroganz nur schmeicheln.
Nora Abdel-Maksoud kommt als Ahlem und Tyra und als Kung Fu-kompetente Cousine vor, während Stockholm Mordkomplizen mit der Erwartung sucht, dass sie aussehen wie Amor und Ahlem. Das trägt „den Krieg“ in ihre Köpfe. Ahlem wappnet sich mit Geschmeidigkeit. Sie ist in Bereitschaft. Am Ende erschreckt Amor ein schwarzer Bart. Dabei hat er nur in einen Spiegel gesehen. Die Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung lässt sich nicht aufheben. Amor sieht aus wie ein Täter und fühlt sich selbst bloß bedroht.
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Ich rufe meine Brüder am Ballhaus Naunynstraße - Foto (C) Ute Langkafel MAIFOTO | Bildquelle: Presse Ballhaus Naunynstraße
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Bewertung:
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Jamal Tuschick - 1. Dezember 2013 ID 7417
ICH RUFE MEINE BRÜDER (Ballhaus Naunynstraße, 30.11.2013)
Regie: Michael Ronen
Bühne und Kostüm: Sylvia Rieger
Illustration und Animation: Olivier Durand
Video: Benjamin Krieg, Hanna Slak und Guillaume Cailleau
Musik: Yavuz Akbulut
Dramaturgie: Irina Szodruch
Mit: Nora Abdel-Maksoud, Jerry Hoffmann, Marion Reiser und Jan Walter
Uraufführung war am 28. November 2013
Weitere Termine: 1. - 4. 12. 2013
Eine Koproduktion des Ballhaus Naunynstraße und des Landestheaters Niederösterreich in Zusammenarbeit mit dem Maxim Gorki Theater
Weitere Infos siehe auch: http://www.ballhausnaunynstrasse.de
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