Weibliche Entgrenzungen
Peter Konwitschny inszeniert in Hannover Nonos „Unter der großen Sonne von Liebe beladen“
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Der euphorische Beifall aller Publikumsschichten am Premierenabend ist eindeutig: Auf ein solches Zeichen haben die Menschen lange gewartet! In einer Zeit offen zur Schau gestellter Indifferenz der Regierungen gegenüber den Lebenssorgen der Menschen, einer Zeit der Entsolidarisierung, der permanenten Bedrohung des Einzelnen durch den Ausschluss aus dem sozialen Leben, ja der Paralyse des sozialen Ganzen überhaupt vergegenwärtigt die Staatsoper Hannover mit Luigi Nonos 1975 uraufgeführter Szenischer Aktion „Al gran sole carico d’amore“ Schicksale von Frauen, die von der Idee beseelt sind, das Notwendige zu tun: nämlich gemeinsam für das bessere Ganze zu kämpfen, anstatt um einen Platz in den zu kleinen Rettungsboten zu konkurrieren, welche die heute vom Neoliberalismus durchherrschte Gesellschaft in immer geringerer Zahl noch vorhält. Nono will „Nachricht vom desolaten Stand der Gesellschaft“ geben und durch das verpflichtende Beispiel der heroisch gescheiterten Revolutionärinnen seit der Pariser Kommune jenen ethischen Kraftquell in uns selbst reanimieren, der uns im Innersten allen Anpassungstendenzen zum Trotz zutiefst uneinverstanden sein lässt mit dem, was die Verfügenden aus dem Leben der Menschen, aus unserem Leben gemacht haben.
Peter Konwitschny gelingt es offenkundig an diese zuletzt so sprachlos gewordenen, verschütteten Erfahrungsschichten der Menschen zu rühren und damit das gesellschaftliche Meinungsmonopol von der Alternativlosigkeit des Status quo zu brechen. Der ungeteilte Schlussjubel der Zuschauer hat den Charakter einer impliziten politischen Demonstration. Möglich wird diese Entdeckung der Oper durch das Publikum für sich und seine Situation, indem Nonos Werk, den Intentionen des Komponisten gemäß, endlich vom Verdikt des Elitären, hermetisch Verschlossenen, nur für die Adepten serieller Kompositiontechniken Bestimmten befreit wird. Konwitschny setzt in seiner Inszenierung auf konkrete, sinnlich ergreifende, schlichte, aber niemals einfältige Bilder. Die sinnliche Klarheit der szenischen Einrichtung strahlt zurück auf die Musik: Das in der höchst eigenwilligen Führung der Sopranstimmen aufbewahrte Sacrum wird als die Stimme der Menschheit erkennbar.
Die vermeintliche Abstraktheit der Bühnenhandlung löst Konwitschny im ersten Teil zunächst perspektivisch auf: Zwei kleine Mädchen im Glashaus betrachten unter Anleitung einer Fee die Geschichte gescheiterter Revolutionen, die sie als ihre eigene Vorgeschichte entdecken, in die sie nun hineinwachsen. Mit dem Weckruf „Karl Marx“ lässt die Fee die getöteten Menschen aus ihren Särgen wiederauferstehen, allmählich füllt und erwärmt sich die kosmische Landschaft durch die heißen Herzen der Frauen der Pariser Kommune und der ihnen nacheifernden Revolutionärinnen des 20.Jahrhunderts mit Louise Michel und Tanja Bunke an der Spitze. Die Mädchen begreifen mit den Zuschauern die Überlegenheit der Revolutionärinnen noch in deren Niederlagen. Konwitschny stellt die Lächerlichkeit und Kleinheit der Mächtigen aus, wenn er das Arrangement zwischen Bismarck und den bürgerlichen Politikern Frankreichs als erbärmliches Kasperletheater aufführt, bei dem der französische Reaktionär Thiers in einem idiotischen Verzückungszustand zum Stiefellecker Bismarcks wird. Mögen die Unterdrücker auch bisher immer wieder Scheinsiege davongetragen haben, solch jämmerlichen Kreaturen kann nicht das letzte Wort der Geschichte gelten! Im zweiten Teil tritt dann jedoch an die Stelle einzelner identifzierbarer Tyrannen die „Repressionsmaschine“; ein die gesamte Bühne beherrschender, die Menschen Stück für Stück zusammenpressender Beton-Schraubstock als Raumsymbol des totalen Kapitalismus. Die revolutionären Aktionen der Frauen werden immer hitziger, verzweifelter und kurzatmiger. Die Spur der femininen Vernunft verliert sich in der allgemeinen Panik der Opfer, um sich zuletzt in den Gesang der toten Mutter zu retten. Als letzter Appell an die Lebenden dringt ihre Stimme im fast bildlosen Ende der Inszenierung aus der geöffneten Tür des Eisernen Vorhangs in den Zuschauerraum.
„Aber im Lächeln einer Frau kann die Welt noch einmal leuchten“, bemerkt der Flüchtling aus Nonos „Intolleranza 1960“. In „Al gran sole carico d’amore” konzentriert sich Nonos ganzes kompositorisches Bemühen darauf , diesem Lächeln bleibenden Ausdruck zu verleihen. Es sind Sphärenklänge von weltferner Schönheit, mit der das hohe Sopranquartett als letzte Erfüllung des Belcanto die Zuhörer überflutet. Wobei hier ‚Welt’ die bestehende Einrichtung der Gesellschaft meint, ‚weltfern’ also nicht eine jenseitsgewandte Einstellung beschreibt, sondern auf ein durch die revolutionären Liebestaten der Frauen schon erkennbar gewordenes, neues ganz anderes Leben verweist. Nonos Sopranstimmen wollen nicht trösten, nicht das schlechte Bestehende verschönern oder retten, sondern nehmen uns in die Verantwortung für das noch Unvollendete: Die Bedingungen unseres gegenwärtigen sozialen Daseins sind keine Naturgesetze, Freiheit, Befreiung vom Joch der Herrschaft von Menschen über Menschen ist möglich, genauso wie die hohen Soprane - Janina Baechle, Carmen Fuggiss, Yuko Kakuta und insbesondere Melanie Walz singen Nonos vokale Erlösungschiffren mit erregender Intensität - sich anheischig machen, die physikalischen Grenzen des Gesangs mit gleißenden Spitzentönen zu überschreiten. Wie eine Grenzgängerin in der musikalischen Schmerzartikulation agiert auch Leandra Overmann als Mutter. Ihr a capella einsetzender, vom Sog der Verzweiflung fortgerissener Klagegesang zu Beginn des zweiten Teils dürfte sich tief in das musikalische Gedächtnis und Herz jedes Zuhörers eingraben.
Zum eigentlichen Protagonisten hat Nono den Chor bestimmt, und der Chor der Staatsoper Hannover sowie das Vokalensemble der Staatsoper werden ihrer Funktion mit bewunderungswürdiger Disziplin, Präzision und vor allem Hingabe gerecht. Bei ungebrochener Konzentration auf die individuell durchchoreographierten Bühnenaktionen transportieren die Chöre alle vokalen Facetten zärtlicher Expressivität der - wie die solistischen Abschnitte in einer immanenten Transzendenz aufgehenden - Chorpartien. Das Philharmonische Staatsorchester reißt die Zuhörer mit Klangattacken von ‚unerhörter’ Schärfe direkt in die gesellschaftlichen Konfrontationen hinein. Am Dirigentenpult steht Johannes Harneit als ruhiger Koordinator, Kraftzentrum und musikalischer Garant für den großen Erfolg dieses ungewöhnlichen Musiktheaterabends.
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ID 979
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