Ruhrtriennale 2006 Bochum 9. Oktober 2006
Die Soldaten
Oper in vier Akten von Bernd Alois Zimmermann
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Claudia Barainsky als Marie | (C) Ruhrtriennale
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Prêt-à-porter des Grauens
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Wenn das Grauen kommt, geht das Bewusstsein in Deckung. Doch gibt es in einem „totalen Theater“ (Zimmermann) keinen Ort des Schutzes, des Entkommens, des reinsten schönen Scheins mehr. Es gibt nichts als Wahrheit unter dem stahldurchzogenen Dach der Bochumer Jahrhunderthalle. Und, das ist seit Hegel kein Geheimnis mehr, die verhält sich bekanntlich ziemlich hart zur Realität. Ja, sie ist die härtere Realität.
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Schweineinstiktive Gesellschaft bittet zum Tanz | (C) Ruhrtriennale 2006
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Grauen, Ausdruck einer seelenlosen Zeit und zeitlos agierender Unrechtssysteme, auch Ausdruck der Musik Zimmermanns wie sie sich unversöhnt plötzlich ab Takt 1 ankündigt, vermittelt der unter anderem als Intendant der Bregenzer Festspiele bekannte englische Regisseur David Pountney in den zwei Kaffeehausszenen mit einer musiktheatralischen Zugriffspräzision vergleichbar der gegenwärtiger cerebraler Laserchirurgie. Auf einem 120 m langen Prêt-à-porter-Laufsteg werden die Zuschauer, die hier gleichsam ihr eigenes Bühnenbild sind, auf Gleisen an dem tragischen Geschehen um die Lenzsche Marie Wesener entlang gefahren, angehalten, gerast, gestoppt. Anders als alle bisherigen Anläufe beim Stemmen dieses Gesamtkunstwerks des zwanzigsten Jahrhunderts konzentriert sich das Team um Pountney (Marie-Jeanne Lecca und Robert Innes Hopkins) auf die einfältige, etwas vorklassische Marie, ohne indes die anderen Unfiguren zu vergessen, und ökonomisiert seine theatralischen Mittel auf eine spartanisch anmutende Requisite. Verzichtet wird auf die voluminösen Schlusslösungen Zimmermanns, die einen ausstellenden Charakter mitführenden Existenz-Geräusche der Frauen, das aufgepfropfte Vater Unser Eisenhardts, die unreflektiert wirkenden filmischen Projektionen von Maries Vergewaltigung. Anstatt dessen wird das Katastrophische, das letztlich den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft aufklären helfen soll, sozusagen „live“ präsentiert. So können einem auch aus Film, Video, Kino oder wer weiß noch wo etliche Vergewaltigungen vorgeführt worden sein, vor denen in der Jahrhunderthalle krepiert jedes Wort: „Marie fortgelaufen“ inmitten der zweiten Kaffeehausszene bildet das Startsignal zu einem Run Maries nebst zweier Doubles durch die Welt aus Schweineinstinktiven. Die Übergriffe, denen Frauen wie Marie auf ihrem väterlich falsch versprochenen Weg nach Oben ausgesetzt sind, enden hier, wo sie dereinst begannen, in der Kindheit. Genauer: Beim Weihnachtsmann. Der, wie die bürgerliche Gesellschaft insgesamt, doch immer erst Geschenke verhieß und schließlich nichts als die Rute aus dem Sack holt. Wörtlich, um wehrlos schreiende Frauenkörper vor den mitschuldig werdenden Augen unbarmherzig roh zu schänden. So dass wir Zeugen des kollektiven Abfalls vom Eros zum Sexus nun die in langsamem Elend sich herausschleifenden Maries aushalten müssen. Während ihre Erfahrungen Kreuz und Dornenkrone hinter sich lassen.
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Düsterer Steg | (C) Ruhrtriennale 2006
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All diese notwendige Gefühlsüberwältigung wird vor allem möglich, weil Claudia Barainsky die Marie spielend spielt und singt. Ihre absolut präsentierte mimische Erkenntnis, wenn sie dem Tod in der negativen Schlussapotheose scheulos ins Auge blickt, ihr voluminös-warmblütiger Sopran, der stets in der Lage ist, dieser vielleicht anspruchsvollsten Partie der Operngeschichte mit müheloser Vitalität zu begegnen, und ihr alleiniger Schlussgang der etwas davon heranträgt, was Lenz unter „metaphysischer Freiheit“ führt, bevor sie vor schlimmen Erfahrungen der modernen Welt, die wie uns ein von der Historie eingefrorenes Standbild von totgeschossenen Frontsoldaten offenbart, ohnmächtig leblos zusammenbrechen muss.
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An diesem Abend macht man mit dieser zu Bauwerken wie dem Kölner Dom in Größe und Schönheit mühelos auf Augenhöhe sprechenden Partitur unterdes eine doppelte Erfahrung: Wie musikalisch avancierte neue Musik erklingen kann und, dass neue Musik nicht unbedingt auf alte Gebäude mit Orchestergräben fixiert werden darf. Die von den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane erzielten, Zimmermanns Anspruchsniveau gegenüber ehrwürdigen Klangergebnisse sprechen da für sich: von den etlichen Klangballungen und allen verzweifelten Klangverwerfungen, über geschichtete Passagen wie dem phänomenal erklungenen Intermezzo des zweiten Akts, bis hin zu jenseitigen, ersterbenden Diminuendos. Eine musikalische Interpretation, die ein „Festhalten“ im freilich kleinen Fernsehformat rechtfertigt. Insonderheit des ohne Abstriche erstklassig besetzen Ensembles, woraus Claudio Otelli als zwischen hypo- und hypertropher Gebärde changierender, das Orchester mitunter zum Duell bittender Stolzius, Robert Bork als glänzender Mary und Tänzerin Beate Vollack als eben mal soldatenspaßig „abgefickte“ Andalusierin beispielhaft erwähnt seien. Eine Arbeit, die als musiktheatralisches Faktotum von Ort, Bühne, Darstellern, Musik und szenischem Geist Maßstäbe setzt; sicherlich ganz im Sinne Bernd Alois Zimmermanns Vision für ein Musiktheater des 21. Jahrhunderts, die wohl weiterhin darauf setzt, dass menschliches Leben, welches diese Charakterisierung verdient, auf den Planeten Erde zurückkehren möge.
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Wolfgang Hoops - red / 21. Oktober 2006 ID 00000002747
Die Soldaten
Oper in vier Akten von Bernd Alois Zimmermann, Text vom Komponisten nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz
Regie: David Pountney
Musikalische Leitung: Steven Sloane
Weitere Infos siehe auch: http://www.ruhrtriennale.de/
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