The Dark Ages
von Milo Rau
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Bewertung:
The Dark Ages heißt der zweite Teil der Europa-Trilogie des Schweizer Recherchetheatermachers Milo Rau. Der Abend hatte vor einem Jahr am Residenztheater in München Premiere und war nun beim 16. FIND-Festival in der Berliner Schaubühne zu sehen. Wie schon im ersten Teil The Civil Wars (der 2015 ebenfalls zu FIND gastierte) geht es um den Mechanismus des Erinnerns aus der ganz persönlichen Sicht von Schauspielern und Betroffenen zu einem bestimmten Thema europäischer Geschichte. Ein Theaterabend, der wieder tief in persönliche Geschichten eintaucht und sehr nachdenklich stimmt.
Bühnenbild und szenischer Aufbau sind ganz ähnlich dem beim Züricher Theater Spektakel 2014 uraufgeführten Stück, in dem es um die Entstehung von Extremismus in der bürgerlichen Gesellschaft ging. Wir schauen zunächst auf ein historisches Bild einer antiken Bühnenempore, die sich dreht und das Bild auf den Nachbau des NGO-Büros des bosnischen Menschenrechtsaktivisten Sudbin Musić freigibt. In der als Fünfakter angelegten Inszenierung The Dark Ages erzählen die fünf beteiligten DarstellerInnen, während sie sich mit einer Videokamera gegenseitig filmen, über ihre Erlebnisse während und nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. den Balkan-Kriegen in den 1990er Jahren. Nach dem eher aktiv spielerischen Rechercheprojekt Common Ground von Yael Ronen am Maxim Gorki Theater eine ganz andere Art der Vergangenheitsbewältigung.
Viele Familienmitglieder, Freunde und Bekannte aus dem Dorf von Sudbin Musić wurden während des Bosnienkrieges von serbischen Freischärlern umgebracht. Musić selbst überlebte ein serbisches KZ, öffnet heute Massengräber und spricht mit den Hinterbliebenen. "Im Identifizieren sind wir Bosnier weltführend", sagt er. Für ihn ist der Krieg nicht vorbei, bevor es Gerechtigkeit für die Opfer gibt. Daran zu erinnern, in einer Welt, die schnell vergisst, ist sein Lebensinhalt. Musić zeigt ein Video einer Hochzeitsgesellschaft, spricht vom Tag, als der frühere Serbenführer Radovan Karadzic nicht vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal erschien, weil er es nicht anerkennt und zählt die noch Verbliebenen aus seinem Dorf auf. Er fühlt sich dabei tatsächlich wie der letzte der Mohikaner.
Vedrana Seksan blieb während der serbischen Belagerung Sarajevos mit der Mutter und dem jüngeren Bruder in der Stadt. In der Kälte des Winters, ohne Kohle, oder Brot; und in der Gefahr vor Scharfschützen und Granatenbeschuss ging es immer ums tägliche Überleben. Vedrana leistete schon früh ihren Beitrag als 16jährige TV-Moderatorin und beschämte sogar den damaligen Uno-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali auf einer Silvesterparty mit unbequemen Fragen.
Auch die serbische Schauspielerin Sanja Mitrović war Teenager während des Ausbruchs des Krieges. Sie erinnert sich daran, wie plötzlich Bücher von kroatischen Schriftstellern aus dem Unterricht verschwanden und die Eltern ihr das Spielen mit Kindern anderer Nationalitäten verboten. Trotzdem empfindet sie selbst die Zeit des späteren Nato-Bombardements 1999 als die beste Zeit ihres Lebens. Vor allem an die Aufbruchsstimmung nach dem Fall der Milošević-Regierung erinnert sie sich gern. Heute sind die meisten Bekannten im Ausland. Sie selbst spielt nun Theater in Belgien.
Mehr oder weniger gerahmt wird das Ganze durch die an Theaterdramen erinnernde Aktüberschriften "Die Schutzflehenden", "Die dunkle Zeit", "Versuch über das Böse", "Die Lebenden und die Toten" und "Schöne neue Welt" sowie die extra für die Produktion komponierte Musik der bekannten slowenischen Rockband Laibach. Sanja und Vedrana berichten gleichermaßen enthusiastisch über Konzertbesuche in Belgrad und Sarajewo nach dem Krieg. Die Musik der Band, die immer wieder Themen und Symbole des Totalitarismus ironisch benutzt und überhöht, hat gerade für die Menschen in den Ländern Ex-Jugoslawiens eine ganz besondere Bedeutung.
Ergänzt werden die Berichte der drei direkt Betroffenen von Erzählungen zweier Ensemblemitglieder des Münchner Residenztheaters. Manfred Zapatka berichtet von den letzten Kriegswochen, in denen er und seine Mutter in Bremen zweimal ausgebombt wurden. Er spricht von seiner schweren Nachkriegskindheit und der sehr engen Beziehung zu seinen Eltern bis zu deren Tod, der noch zusätzlich durch eine Erbstreitigkeit mit dem Bruder überschattet wurde.
Das sich wie ein roter Faden durch den Abend ziehende Thema ist auch eines der persönlichen Verluste. Das wird vor allem in den Berichten der Schauspielerin Valery Tscheplanowa deutlich, die nach der Trennung der Eltern mit ihrer Mutter aus dem russischen Kasan nach Deutschland kam, es anfänglich recht schwer hatte und wenig sprach. Eine Eigenschaft, die sie auch in ihren Schauspielberuf einbrachte, was sich auch in der Arbeit mit Regisseur Dimiter Gotscheff niedergeschlagen hat. Sie erzählt von der gemeinsamen Inszenierung von Heiner Müllers Hamletmaschine, die sie lange am Deutschen Theater Berlin spielten. Und selbst noch kurz nach dem Tod des Regisseurs war sie damit in Kuba, wo Gotscheff als Videoprojektion eingespielt wurde.
Teure Tote im Video sieht man öfter an dieser Aufführung, und trotzdem ist das in erster Linie kein sentimentaler, eher ein nachdenklich stimmender Abend über die Kraft der Erinnerung, wofür auch das Theater einen Beitrag leisten kann. So sprechen dann auch Valery Tscheplanowa und Sudbin Musić, der wie Hamlet den Schädel seines exhumierten Vaters in Händen halten musste, Texte aus der Hamletmaschine Heiner Müllers, dem Meister der geschichtlichen Totenbeschwörung. "Each Man kills the Thing he loves" singt die Band Laibach. Ein Jeanne-Moreau-Cover nach The Ballad of Reading Gaol von Oscar Wilde. Ob das die letzte Erklärung für das Böse in der Welt ist, bleibt fraglich.
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The Dark Ages am Residenztheater München | Foto (C) Thomas Dashuber
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Stefan Bock - 18. April 2016 ID 9261
THE DARK AGES (Schaubühne am Lehniner Platz, 16.04.2016)
Regie: Milo Rau
Bühne und Kostüme: Anton Lukas
Musik: Laibach
Licht: Uwe Grünewald
Video: Marc Stephan
Dramaturgie: Sebastian Huber und Stefan Bläske
Mit: Valery Tscheplanowa, Manfred Zapatka, Sanja Mitrović, Vedrana Seksan und Sudbin Musić
Uraufführung im Residenztheater München war am 11. April 2015
Gastspiel zu FIND 16
Weitere Infos siehe auch: http://www.residenztheater.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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