LES PARTICULES ÉLÉMENTAIRES
Julien Gosselin / Si vous pouviez lécher mon coeur, Lille
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Bewertung:
Ein weiteres Achtungszeichen setzte die nunmehr zu Ende gegangene Saison der diesjährigen FOREIGN AFFAIRS mit der zweimal gezeigten Vorstellung der französischen Theater-Produktion Les Particules élélmentaires.
Der 1998 erschienene Roman des französischen Skandalautors Michel Houellebecq ist in Deutschland einer breiteren Masse nicht nur durch die recht erfolgreiche Verfilmung Elementarteilchen (2006) von Oskar Roehler mit einem kleinen Starensemble (u.a. Martina Gedeck, Nina Hoss, Franka Potente, Moritz Bleibtreu, Christian Ulmen) bekannt. Auch auf den Theaterbühnen des Landes ist Houellebecq kein Unbekannter. Von Frank Castorf, der bereits im Jahre 2000 kurz nach Erscheinen des Romans eine Version an der Berliner Volksbühne mit Martin Wuttke und Herbert Fritsch in den Hauptrollen inszenierte, bis zu Johan Simons, der 2004 am Schauspielhaus Zürich (Theatertreffen 2005) Regie führte, erfreuen sich die Elementarteilchen auch weiterhin großer Beliebtheit. Nun wurden wir mit einer französischen Variante des Stoffs beglückt:
Der 27 Jahre junge Regisseur Julien Gosselin inszenierte Houellebecqs viel diskutierten Gesellschaftsroman tatsächlich als Erster in dessen Heimatland. Das liegt sicherlich auch daran, dass Romanadaptionen eher ein Phänomen der deutschen Theaterlandschaft sind. Die Premiere fand beim großen französischen Festival d’Avignon 2013 statt. Seitdem gilt Gosselin als Shooting Star der internationalen Theaterszene und wurde mit seiner Inszenierung auch zum Festival RADIKAL JUNG 2014 nach München eingeladen. Dort gab es dann fast erwartungsgemäß den Publikumspreis.
Gosselin scheint mit seiner frischen, unkonventionellen Art zeitgenössische Stoffe zu inszenieren einen Nerv getroffen zu haben. Er gibt dafür u.a. Nicolas Stemann, Jan Lauwers und Romeo Castellucci als Vorbilder an. Ersterer scheint es dem Absolventen der EPSAD in Lille in diesem Fall besonders angetan zu haben.
Auf mit grünem Kunstrasen ausgelegter Bühne sitzen auf Podesten am Rand Livemusiker und unterlegen die Inszenierung mit einem dichten Elektrosoundteppich. Genau wie bei Stemanns Theaterperformances sind hier alle Darsteller ständig anwesend und übernehmen wechselnd die Rollen der Romanfiguren. Im ersten Teil vor der Pause überwiegt dabei ein munteres Erzählen. In Solo- und Gruppenspielszenen werden die beiden Hauptfiguren und ungleichen Halbbrüder Michel (Antoine Ferron) und Bruno (Alexandre Lecroc) vorgestellt. Dabei fällt v.a. der in jeder Hinsicht sexuell immer zu kurz gekommene, vollkommen schwanzgesteuerte und tittenorientierte Bruno mit Sonnenbrille und Cowboyhut auf. Ein männliches Heteroklischee schlechthin. Ein Großteil nimmt sein verzweifelter Ausflug in ein esoterisch angehauchtes New-Age-Camp zwecks sexuell ungezügelter Beziehungsanbahnung ein.
Der zwischenmenschlich und psychisch gescheiterte Bruno findet sein kurzes Glück mit der in jeder Beziehung offenherzigen Christiane, die das Komplizierte in ihren vorherigen Beziehungen dem reinen uneingeschränkten Genuss vorzieht. Dem gegenüber steht Michel als großer Grübler in der verkorksten Familie. Die Inszenierung lässt nichts aus, um die vielen Liebschaften und Egotrips der dem uneingeschränkten Individualismus und sexuellen Selbstverwirklichungstrieb frönenden Mutter Jane inklusive ihrer komplizierten Beziehungszusammenhänge per Videoeinblendung zu beschreiben. Michel ist sexuell eher desinteressiert und widmet sich ganz der wissenschaftlich technischen Weiterentwicklung der Gesellschaft. Sein verspäteter sexueller Ankerpunkt wird die Freundin aus Kindertagen, Annabell, eine vom Leben frustrierte Frau, die im ganz rational denkenden Michel ihre letzte Chance auf ein Glück mit erfülltem Kinderwunsch sieht.
Den Brüdern und ihren beiden Geliebten wird dieses Glück dann aber nicht vergönnt. Der vergängliche Körper schlägt ihnen ein Schnippchen. Anstatt sich wie Bruno in den Wahnsinn zu flüchten, geht Michel das Problem frontal didaktisch an. Wo Frank Castorf lustvoll dekonstruierte und auch spielerisch völlig überagierte, führte Johan Simons feinstes Debattier-Theater auf. Gosselins Elementarteilchen bewegen sich hier irgendwo dazwischen. Ähnlich wie die flüchtigen Bauteile der Materie zerfällt seine Inszenierung auch auffällig in zwei sehr unterschiedliche Teile. Erst ausgelassener Spaß mit Rockmusik und Slapstick, dann wieder längere Erzählpassagen mit erklärender Videounterstützung. Anders lassen sich Houellebecqs zuweilen zynische, ausufernde Gedankenschleifen wohl auch nicht bändigen. Houellebecq schlägt z.B. in einem weitschweifigen Kapitel die gedankliche Brücke vom Wiener Aktionismus über die sexuell befreiten 68er und spirituelle Atmosphäre der Hippies bis ins Zeitalter der brutalen nihilistischen Serienkiller. Gott ist tot, alles ist erlaubt. Das ist sicher schwer auf der Bühne darstellbar. Hier intoniert der verhinderte Rockstar und satanische Ritualmörder David Di Meola ein herzzerreißendes „Nights in White Satin“.
Dagegen wendet sich nun die Idee Michels, Liebe, Sex und Fortpflanzung voneinander zu trennen. Der Mensch erhebt sich selbst zum Gott. Im Video spricht eine kettenrauchende Reporterfigur im Parker wie ein Houellebecq-Look-Alike mit einer ehemaligen Mitarbeiterin des Molekularbiologen. Das ist dann aber auch schon fast alles, was hier an den Wissenschafts- und Gesellschaftsdiskurs erinnert, den Houellebecq mit seinem Roman anstoßen wollte. Eine echte philosophische Auseinandersetzung wie zum Beispiel mit Aldous Huxleys Roman Schöne Neue Welt scheint Gosselin dann eher doch zu scheuen. Was das nun mit der Neoliberalisierung und Ökonomisierung der menschlichen Gefühle und Beziehungen zu tun hat, erfährt man u.a. bei René Pollesch. Elend lang gerät die erzählerische Passage, die Michel nach dem Freitod der an Unterleibskrebs erkrankten Annabell nach Irland führt und dort an einem Forschungsinstitut die Grundlagen für den neuen Menschen finden lässt. Sein spurloses Verschwinden und die späteren Diskussionen beim Aufgreifen seiner Theorien werden im Schnelldurchlauf und wieder per Videoeinspielung abgehandelt.
Das Problem an Gosselins Inszenierung ist aber, dass es Houellebecq durchaus ernst meint, mit seiner These eines geklonten Menschen ohne Liebesproblemchen und Sinnkrisen. Das scheint auch Gosselin zu wissen und schiebt daher einen Epilog nach, in dem die den Göttern gleichen neuen Menschen 2076 von der Bühne der immer noch stattfindenden FOREIGN AFFAIRS mildtätig auf die Art dem Affen ähnlichen Menschen, die sie bereits hinter sich gebracht haben, herunter blicken und uns zuprosten. „Dieses Bühnenstück ist dem Menschen gewidmet.“ kann man dazu auf der Videoleinwand lesen. Wie schön zu wissen. Aber leider kommt dadurch auch alles Vorangegangene doch wieder einem lustigen Kindergeburtstag näher als einer ernst zu nehmenden Auseinandersetzung mit Houellebecqs Roman. Und dennoch ist das darstellerisch bei Weitem noch das Beste, was die FOREIGN AFFAIRS von Matthias von Hartz in diesem Jahr in Sachen Schauspiel zu bieten hatten.
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Les Particules élémentaires - Foto (C) Simon Gosselin
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Stefan Bock - 12. Juli 2014 ID 7957
LES PARTICULES ÉLÉMENTAIRES (Haus der Berliner Festspiele, 10.07.2014)
Adaption/Regie/Bühnenbild JULIEN GOSSELIN
Licht NICOLAS JOUBERT
Video PIERRE MARTIN
Sound JULIEN FERYN
Musik GUILLAUME BACHELÉ
Kostüme CAROLINE TAVERNIER
Mit GUILLAUME BACHELÉ, JOSEPH DROUET, DENIS EYRIEY, ANTOINE FERRON, NOÉMIE GANTIER, MARINE DE MISSOLZ, ALEXANDRE LECROC, CAROLINE MOUNIER, VICTORIA QUESNEL und TIPHAINE RAFFIER
Aufführungen zu den FOREIGN AFFAIRS: 10. + 11. 7. 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinerfestspiele.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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