Winterreise
Franz Schubert / William Kentridge
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Bewertung:
Sicherlich einen der Höhepunkte nicht nur des Kentridge-Fokus erlebten die FOREIGN AFFAIRS mit der Interpretation der Winterreise von Franz Schubert zu den Gedichten von Wilhelm Müller durch den Bariton Matthias Goerne, der vom Intendanten der Wiener Festwochen Markus Hinterhäuser am Klavier begleitet wurde. Mit fast schon philosophischem Ernst nähert sich William Kentridge dem romantisch-melancholischen Liederzyklus. Er hat zu einer Reihe seiner bereits existierenden Animationsfilme einige neue zur Bebilderung von Schuberts Musikwerk passend hinzugefügt.
Diese in üblicher Weise animierten Kohlezeichnungen Kentridges laufen auf zwei großen und versetzt stehenden Atelierwänden, die mit Zetteln und Zeichnungen dicht behängt sind und den visuellen Hintergrund für den musikalischen Vortrag von Goerne und Hinterhäuser bilden. Die schwarz-weißen Videobilder greifen Kentridges typische Themen wie Entstehen und Verwischen, Erinnern und Vergessens auf, aber auch die Naturmetaphorik der Verse von Wilhelm Müller, dessen gedankliches, lyrisches Ich suchend durch die kargen Landschaften Kentridges streift, als animiertes Alter-Ego des Künstlers über die Seiten von Enzyklopädien wandelt und sich ein wirbelndes Tänzchen mit der südafrikanischen Choreografin Dada Masilo aus der Performance Refuse the Hour gönnt.
William Kentridge spannt geschickt einen Bogen von Schuberts Lebenswelt in Wien, wo die Konzert-Performance auch bei den Festwochen 2014 zu sehen war, zur Umgebung des südafrikanischen Johannesburg, der Heimat Kentridges mit ihrer kargen Grubenarchitektur. Bäume entstehen wie aus dem Nichts und verdorren wieder, animierte Streifen laufen über die Videowände, wie Gefrorne Tränen, von denen Goerne singt, und Kentridges Kaffeekannen, Megafontrichter, Kameras und liegende, nackte Frauenleiber verwirbeln als Kohlepapierfetzen zu Schuberts Winterstürmen.
Zu den Nebensonnen zeigt Kentridge Negativbilder, zum Leiermann zieht eine Schattenprozession gebückter Leiber wie ein endloser Flüchtlingstross über die Leinwand. Und plötzlich hängen da auch Leiber im Lindenbaum. Zu dokumentarischen Archivbildern von Schlachten und Bombenexplosionen fügt Kentridge am Ende seine gezeichneten Bilder der Leichen des Sharpeville-Massakers. Schuberts düstere Winterreise als Kunstallegorie auf politische Restauration und Hoffnungslosigkeit wird somit auch zu einem ganz gegenwärtigen Requiem für die Opfer von Krieg, Verfolgung und Apartheid.
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Winterreise von Franz Schubert/William Kentridge | Foto (C) Patrick Berger / Artcomart
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Stefan Bock - 16. Juli 2016 ID 9435
WINTERREISE (Haus der Berliner Festspiele, 12.07.2016)
Regie und visuelle Kreation: William Kentridge
Bühnenbild: Sabine Theunissen
Kostümbild: Greta Goiris
Lichtdesign: Herman Sorgeloos
Videoschnitt: Snezana Marovic
Video: Kim Gunning
Mit: Matthias Goerne (Bariton) und Markus Hinterhäuser (Klavier)
Produktion: Festival d’Aix-en-Provence
Uraufführung 2014 beim Festival d’Aix-en-Provence
Koproduktion: Wiener Festwochen, Holland Festival, Kunstfestspiele Herrenhausen (Hannover) / Niedersächsische Musiktage (Göttingen), Lincoln Center, Les Théâtres de la Ville de Luxembourg, Opéra de Lille
Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-festspiele.de
Post an Stefan Bock
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