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Castorfopern (11)

Anti-


christen



Christoph Luser ist Pastor Ephraim Magnus von Hans Henny Jahnn am Deutschen Schauspielhaus Hamburg - Foto (C) Matthias Horn

Bewertung:    



Pastor Ephraim Magnus von Hans Henny Jahnn (1894-1959) wäre ein "wirklich faustisches Stück", meinte seiner Zeit Alfred Döblin in einer Uraufführungs-Rezension aus dem Jahre 1923: "Nicht für Prüde und Kinder. Die Menschen ringen mit der blutigen Wut Dostojewskischer Figuren." Ein schöner Schlusssatz, der uns gleich aufs Spielerischste zu Frank Castorf leitet, welcher seit geraumer Zeit um gigamonische Verbühnentauglichungen beispielsweise auch der großen russischen Erzähler aus dem 19. Jahrhundert ringt, allen voran des Seelensehers Fjodor Dostojewski; dessen Brüder Karamasow wird sich Castorf als sein Allernächstes vornehmen...

Zuvor - und nach den von der Brecht-Erbin "erfolgreich" verhinderten Baal-Reprisen des vom Regisseur am Residenztheater München inszenierten Jugendstreichs - begab er sich von Süd nach Nord, um justament am Deutschen Schauspielhaus Hamburg das Erstlingsstück von Jahnn (dem in der Hansestadt geborenen als wie gestorbenen Schriftsteller, Publizisten, Orgelbauer und Musikverleger) üppig aufzublättern und mittels des superprotestantisch-bühnenbildnerischen Drehkosmos von Aleksandar Denić szenisch zu vermitteln. Was nur teilweise gelang und gar nicht mal so sehr dem Resultat der Macher zuzuschulden war.

*

Das Allermerkwürdigste des besagten Dramas ist der krasse Abfall seines inhaltlichen wie auch strukturellen Spannungsbogens. Jahnns Stück fängt mit einer zwischenmenschlich-untoppbaren Vater-Kinder-Szene an, gipfelt hierauf nahtlos als suizider Paukenschlag (des Vaters) - und ab da entwickeln und verselbständigen sich die Hauptfiguren (Kinder ohne Vater) resp. ihre kruden Glaubens- oder Lebenstheorien in verirrerischster Weise und in Richtung eines vollbewusst gelebten & gelitt'nen Antichristentums; "menschlicher Vorwand" bei den ganzen Durchgeknalltheiten wurde und blieb so eine Art von faustisch-suchendes Motiv à la 'wo steckt die Seele? hol'n wir sie uns aus dem Leib!' o.s.ä. Damit war gewiss auch Brecht (einer der beiden Uraufführungs-Regisseure) etwas überfordert, denn er strich den Brocken damals auf ein Drittel, ungefähr, zusammen.



Josef Ostendorf (re.) in Pastor Ephraim Magnus am Deutschen Schauspielhaus Hamburg - Foto (C) Matthias Horn


Josef Ostendorf vermochte also gleich am Anfang [und in einer seiner besten Rollenauftritte, die ich mit ihm je sah!] klippklar zu stellen, wer der Herr im Hause war und wohl für immer bleiben wird. Von einem grauenhaften Darmgeschwür geplagt, ergeht er sich in (s)einem nur durch ein paar winselnd-unwichtige Zwischenrufe seiner Brut (2 Söhne von diversen Frauen, 1 Tochter) unterbroch'nen Mega-Monolog zum Thema 'habe nie geliebt, daher muss ich lebendig vor mich hinverwesen' und schafft sich von jetzt auf gleich durch einen resoluten Brust-und-Herzschuss (vor den unschuldigen Kinderaugen) ab: Ein Schockerlebnis für die Nachkommen aus Fleisch und Blut - zudem so eine Art von Wink mit Zaunspfahl à la 'falls ihr doch die Seele, die man so zur Liebe braucht, nicht finden solltet, müsst ihr mir halt zwanghaft in die Grube folgen' oder wie... Das saß!

Ja und von da an nahm das erbschaftige Übel von Ephraim, Jakob und Johanna Magnus (den drei unglücklichen Pastorskindern) seinen ungezügelt-wirren Lauf...

Nichts spielte sich im Übrigen in der Natur oder im Freien ab, obgleich ja frische Luft Heranwachsenden immer gut tut; nein. Alles "geschah" in einer von dem Denić aufgetürmten protestantischen Sakral-, Arbeits- und Wohnwelt. Orgel, Kanzel, Bücher und Kamin; auch eine alte Folterbank (ein Sammelstück des Suizierten?) oder eine Folterkammer hoch im Dachgeschoss/unter der Kuppel (?) waren Teile aus dem pastorellen Inventar.

Das modische und teuer anzusehende Kostümdesign von Adriana Braga Peretzki bewies - rein oberflächlich-optisch - , dass die Inszenierung durchaus eigene und mit dem Text an sich weniger im Zusammenhang stehende Wege zu beschreiten willens war. Dabei hatte der Castorf ungewöhnlich Vieles aus der kunstgewaltig volltönenden Jahnn-Sprach-Orgie so vom Blatt weg inszeniert; 200 Buchseiten mit Stücktext kann man sowieso nicht/nie vollständig sprechen lassen - beinah' wichtigster "Bestandteil" der Hamburger Produktion war dann auch die Souffleuse Evelyn Wietfeld, deren willkomm'ne Text-Zuflüsterung ein segensreiches Krückenwerk fürs mimende und sprechende Ensemble war!

"Jakob, der Frauenmörder, wird hingerichtet, die überlebenden Geschwister Johanna und Ephraim bewahren den Körper des Toten und erkunden selbst die Grenzen körperlichen Schmerzes." (Quelle: schauspielhaus.de)



Christoph Luser als Pastor Ephraim Magnus und Jeanne Balibar als dessen Schwester im Deutschen Schauspielhaus Hamburg - Foto (C) Matthias Horn


Hier ein paar Impressionen: Samuel Weiss (als Jakob) hatte eine kleinkunstpreiswürdige Führer-Performance abzuliefern. / Jeanne Balibar (als Johanna) musste in einem Coca-Cola-Kühlschrank reglos-abwartend Aufstellung nehmen. // Christoph Luser (als Ephraim) verdichtete durch seinen ohnehin sehr ausdrucksstarken Blick das irrige Heraufkriechen einer dem Untergang geweihten komplizierten ("kranken") Psyche der von ihm gestalteten Jünglingsnatur. ///

In "Nebenrollen": Carlo Ljubek (als Paul), Kathrin Wehlisch (als Mathilde/Hedwig), Aljoscha Stadelmann (als Andreas), Bettina Stucky (als Staatsanwalt) und Michael Weber (als Verteidiger).

* *

Nachdem ich Jahnns Stück jetzt - nach Jahren - wiederlas, hatte ich wieder nicht verstanden, worum es in ihm (außer dem fluchbelad'nen Vater-Sohn-Konflik) wohl ging. Zumeist um Körperliches, ja, nun gut, aber - ich meine: außerdem?

* * *

Genial fand ich, dass Castorf ganz zum Schluss (4 Stunden später) Josef Ostendorf dann nochmals in das Stück hinein bemühen ließ - jetzt spielte der nämlich den eig'nen, in seinen resurrexierten Übervater "umgestylten" Sohn. Dass dieser merkwürdige Antichristen-Kreis sich endlich schließen sollte durch den einzig-echten: Pater Ephraim Magnus.

Kurz vorher (oder kurz danach? ich weiß es schon nicht mehr) ein mehr epistelhaltiges Einsprengseln von diversen Statements einiger am Stück Beteiligter zur allgemeinen Lage des Theaters heute. Grundtenor in etwa so: Dass sich die Ausführenden von Seiten der Polizei UND des Publikums jegliche Einmischung in ihre künstlerische Autonomie verbäten oder so... Natürlich, was denn sonst! da gibt's gar keine Widerrede!

Letzteres schmälerte selbstverständlich unsere Gesamtbewertung dieses großartig gemimten Schauspielfestes nicht im Mindesten!


Andre Sokolowski - 20. März 2015
ID 8517




PASTOR EPHRAIM MAGNUS (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 19.03.2015)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Lothar Baumgarte
Video und Live-Schnitt: Alexander Grassek
Kamera: Marcel Didolff und Harald Mellwig
Sounddesign: Dominik Wegman
Produktionsleitung: Sebastian Klink
Dramaturgie: Jörg Bochow
Besetzung:
Josef Ostendorf (Pastor Magnus)
Christoph Luser (Ephraim, sein Sohn)
Jeanne Balibar (Johanna, seine Tochter)
Samuel Weiss (Jakob, sein unehelicher Sohn)
Carlo Ljubek (Paul)
Kathrin Wehlisch (Mathilde / Hedwig)
Aljoscha Stadelmann (Andreas)
Bettina Stucky (Staatsanwalt)
Michael Weber (Verteidiger)
Premiere war am 19. März 2015
Weitere Termine: 28. 3. / 2., 30. 4. / 6. 5. 2015


Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspielhaus.de


Post an Andre Sokolowski

http://www.andre-sokolowski.de

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Siehe auch:
Die Krönung Richards III.



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