Traditions-
pflege
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Der Geizige - Plakat (C) Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
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Frank Castorfs Ambition, den Geizigen von Jean Baptiste Molière zur Aufführung zu bringen, konnte sicherlich mitnichten eine traditionspflegende sein. Ja und so lesen wir dann flugs auf volksbuehne-berlin.de: "...die Todsünde Geiz beginnt sich Mitte des 17. Jahrhunderts gleichermaßen als Tugend und Wirtschaftsfaktor zu etablieren. Das 'Evangelium der Entsagung', wie Karl Marx das Sparen bezeichnet, ist neben Raub und Betrug ein wichtiger Baustein der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals und seiner politischen Ökonomie."
Und mehr noch: "Sie hat im Westen eine Zwei- Klassen-Gesellschaft hervorgebracht, deren gemeinsame Ideologie der Konsum ist. Die einen kaufen, was sie wollen, die anderen sind zu 'Mäc-Geiz' und zur '99-Cent-Mentalität' gezwungen – nur von Letzteren wird auch politisch erwartet, zu sparen. Hier ist die deutsche Mittel- und Unterschicht angesichts von Wirtschafts- und Bankenkrise mit der Mehrheit der Griechen, Italiener und Spanier vereint. Geiz ist nicht mehr Ausdruck einer Tugend oder protestantischer Ethik, eher Folge von niedrigem Lohn und krasser Verteilungsungleichheit."
Ja, überzeugt.
Der diesmal "nur" 3,75 Stunden währende Volksbühnen-Abend ist dann aber doch und irgendwie traditionell gestrickt. Bert Neumann hatte sich für ihn eine guckkastenhafte Bretterbühne, wie man sie vielleicht auch zu der Zeit Molières verwandte, ausgedacht und ziemlich weit nach vorn zum Publikum (überm Orchestergraben und über die ersten Reihen des Parketts) gestellt. Das schafft eine sehr angenehme Nähe zwischen Schauspielern und Zuschauern, und die Akustik - in dem Holzraum - ist enorm und gut. Infolgedessen haben wir es auch mit einer sich vorzüglich artikulierenden (derzeitigen) 1A-Garde an Volksbühnen-Protagonisten [Namen s.u.], die schier opernmäßig sprechen und agieren, zu tun - allen voran der sich wohl selbst gigantisch überbietende Martin Wuttke in der Titelrolle.
Nach der Pause stellen wir dann allerdings mal wieder fest - ja und wir hätten uns auch stark gewundert, wenn es etwa nicht in dieser Art und Weise abgelaufen wäre - , dass es Castorf mit dem O-Text "seines" Geizigen zu langweilig geworden war und er dann also (wie gehabt) auf Stoff- und Themenübergreifendes anreicherisch zurückgriff; so z.B. auf einen Marat-Text (à la Marat in der Badewanne), improvisierte Sketcheinlagen à la Tatort Leipzig (wo der Wuttke ja beim MDR paar Jahre lang Ermittler war) oder ausgiebige Sudel- und Schmutzzitate des Marquise de Sade. Und auch die Videokamera Andreas Deinerts ist mal wieder stark vergrößerungspräsent und mit dabei.
Das Alles (s.o.) tut dann meistens einen inhärenten Regisseurszwang zu uns 'rab vermitteln, wessentwegen Castorf - so in Inszenierungsrausch geratend - kaum mehr abzuschätzen in der Lage war und ist, ob/wie er seine Umwelt hiermit langweilen oder verstören könnte; und ein gutes Dutzend Zuschauer sahen wir jedenfalls sich aus dem Saaldunkel so nach und nach verabschieden...
Dennoch:
Die Castorf-Chosen haben eine jugendliche Frische, die nicht wegzudiskutieren ist! Das scheint mir - auch in Anbetracht seines inzwischen mehr und mehr erreichten Erwachsenenstatus - bemerkenswerter denn je zu sein; ja, deshalb macht es halt auf Dauer einen Heidenspaß, den anstrengenden Castorf-Happenings auch weiter lustvoll zuzusehen, zuzuhören. Man scheint immer permanent dabei oder gar ein "Familienangehöriger" der Seinigen zu sein.
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Bewertung:
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Andre Sokolowski - 10. Mai 2014 ID 7818
DER GEIZIGE (Volksbühne Berlin, 09.05.2014)
Regie: Frank Castorf
Bühne und Kostüme: Bert Neumann
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert
Dramaturgie: Sebastian Kaiser
Mit: Martin Wuttke (Harpagon, Cléantes und Élises Vater, verliebt in Mariane), Franz Beil (Cléante, sein Sohn, Geliebter der Mariane), Lilith Stangenberg (Élise, seine Tochter, Geliebte des Valère), Maximilian Brauer (Valère, Anselmes Sohn, Geliebter der Élise), Axel Wandtke (Anselme, Valères und Marianes Vater / Meister Simon, Geldverleiher), Kathrin Angerer (Frosine, Heiratsvermittlerin), Sophie Rois (Meister Jacques, Harpagons Koch und Kutscher / La Flèche, Cléantes Diener) und Margarita Breitkreiz (Mariane, Cléantes Geliebte, von Harpagon geliebt)
Premiere war am 14. Juni 2012
Weitere Termine: 17. + 20. 5. 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.volksbuehne-berlin.de
http://www.andre-sokolowski.de
CASTORFOPERN
Siehe auch: La Cousine Bette (03.05.2014)
Fortsetzung in Kürze: Baumeister Solness (31.05.2014)
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