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Freie Szene

Thomas Braschs "Märchen aus Deutschland" im ehemaligen Frauengefängnis
SOEHT 7 in
Lichterfelde-Ost



(C) Alexander Atanassow

Bewertung:    



Einmal im Jahr verlässt das Gefängnistheater aufBruch den geschlossenen Vollzug und sucht sich im Berliner Stadtraum eine interessante Spielstätte mit Geschichte meist auch passend zum Stoff, den die MacherInnen dann mit einem gemischten Ensemble aus Freigängern, Ex-Inhaftierten, SchauspielerInnen und Berliner BürgerInnen realisieren. Diesmal haben sich Regisseur Peter Atanassow und Dramaturg Hans-Dieter Schütt ein Stück des 2001 verstorbenen Schriftstellers, Lyrikers, Dramatikers und Filmemachers Thomas Brasch ausgesucht. Brasch würde nur noch selten gespielt, bedauert Dramaturg Schütt, die Sprachgewalt des Autors und seine Themen prädestinieren ihn aber unbedingt für eine Produktion von aufBruch, das sich für 10 Vorstellungen plus einer vorherigen, zwei Monate dauernden Probezeit in das ehemaligen Frauengefängnis SOEHT 7 in Lichterfelde-Ost eingemietet hat. Der 1906 entstandene Gefängnisbau war bis 2010 in Betrieb und beherbergt nun seit 2016 die Berliner Kreativszene bestehend aus bildenden Künstlern, Musikern und Theaterschaffenden. Wer will, kann sogar in den kleinen Einzelzellen übernachten. Der Kulturmanager Jochen Hahn hat das Gefängnis gekauft und ist gerade wieder dabei es umzubauen.

*

Also durchaus der richtige Ort für die aufBruch-Maxime „KUNST GEFÄNGNIS STADT“. Und mit Braschs Rotter, geschrieben 1976-77, hat man den richtigen Stoff zur Bespielung dieses Areals. Im Untertitel ein "Märchen aus Deutschland", ist Rotter ein Stück Zeitgeschichte, Stationendrama und Aufstieg und Fall eines Allerweltsmenschen im Strudel von politischen Ereignissen und gesellschaftlichen Zwängen, denen er sich unterordnet. Der Titelheld Karl Rotter macht Karriere in zwei Systemen. Vom arbeitslosen Fleischerlehrling in der Weimarer Republik steigt er im Zuge der Machtergreifung Hitlers in der Hierarchie der Nazis auf. Rotter ist bei der Enteignung jüdischer Geschäfte dabei, erzählt von Hitlers Auftritt beim Begräbnis des Reichspräsidenten Hindenburg, bildet Soldaten aus und führt einen Trupp im Kampf um Berlin. Doch schnell wendet er sich nach dem Zusammenbruch zum großen Erbauer des neuen Arbeiter- und Bauernstaats, errichtet nun Staudämme, Stahl- und Erdölwerke. Keine Zeit für das eigene Privatleben scheitert seine Ehe mit Elisabeth.

Rotter verdrängt auf seinem Weg andere und wird zum Ende, nachdem man ihm zum Held der Arbeit gekrönt hat, selbst entsorgt. Der Opportunist Rotter hat im anarchischen Lackner einen Gegenspieler, der ihm immer wieder über den Weg läuft, sich radikal verweigert und derb asoziale Züge trägt. Ein Frauenheld und Genießer, der dem pflichtbewussten Rotter noch im Tod spottet. Zwei Gegensätze, die sich immer wieder anziehen und abstoßen. Lackner setzt sich mit seiner Verweigerungshaltung zwischen alle Stühle, auch wenn er deswegen ins Lager und später ins Gefängnis geht. Da hat Brasch auch einiges von sich selbst hineingepackt. Als Wanderer zwischen den Welten hatte der Autor Erfahrungen in beiden deutschen Systemen gemacht. Im Osten nach einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch von DDR-Truppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings im Gefängnis, eckte Brasch später auch im Westen an. Seine Maxime: „Bleiben will ich wo ich nie gewesen bin.“

Braschs Rotter ist ein deutsches Stehaufmännchen. Wie das offene Rasiermesser Woyzeck hetzt er durch die Geschichte, ist Sieger und Verlierer, Opfer und Täter in einem. Brasch nimmt in seinem Stück Anleihen sowohl beim expressionistischen Dichter Ernst Toller wie auch bei den Lehrstücken Bertolt Brecht. Wenn man so will, ist Rotter allerdings eher ein Anti-Lehrstück. Rotter ist austauschbares Individuum, „Masse Mensch“ und „neuer Mensch“, ein „leeres Blatt, auf das ein Lebenslauf geschrieben wird von der jeweils führenden Klasse“ und „der Stoff, aus dem man Werkzeug macht“. Die eingeschobenen Clownerien, in denen Rotter von zwei „Filosofen“ als hohl analysiert sowie von den Clowns Kalin und Balin auseinandergenommen und als Holzpuppe wieder zusammengesetzt wird, variieren Brechts Maßnahme und das Badener Lehrstück.

AufBruch-Regisseur Atanassow hat Braschs Zweifel, „ob ein durchgängiges Prinzip (der Kasten) richtig ist für das Stück“ (Brief an den Stuttgarter Uraufführungsregisseur Christof Nel) ernst genommen und lässt es tatsächlich als Stationendrama spielen. Beim Besuch der Generalprobe am 17. Oktober geht es immer wieder quer durch das Gebäude. Beginn ist draußen im Hof, wo das Ensemble den Fleischerlehrling Rotter als Chor mit der Axt in der Hand gibt. Auf einem Hackklotz liegt ein Stück rohes Fleisch. Es ist von Fahne, Volk, Seele und Gottvertrauen die Rede. Der Chor singt "Vorwärts, Vorwärts", ein Lied der Hitlerjugend mit einem Text von Baldur von Schirach. Es ist die Zeit der Straßenunruhen zu Anfang der 1930 Jahre.

Weiter geht es in den Lichthof des ehemaligen Gefängnisses, wo mit Schaufensterpuppen das jüdische Bekleidungsgeschäft aufgebaut ist, in einen Kuppelsaal und wieder zurück unters Dach und zum Ende in eine kleine Kapelle. „Oben geht unter und unten steigt auf.“ heißt es noch beim jungen Rotter, der von wechselnden Darstellern über die Stationen verkörpert wird, während den Individualisten Lackner immer derselbe Darsteller spielt. Auch Rotters große Liebe Elisabeth wechselt von Ort zu Ort die Darstellerin. Das macht durchaus Sinn und ist bewährtes Prinzip der Regie. Im roten Kleid singt Elisabeth „Dancing Queen“ von ABBA, und draußen marschieren die Soldaten. Zwischen Chören und einzelnen Dialogen vollzieht sich Rotters Werdegang bis zum Ende des Krieges und seinem Neuaufstieg als Bauleiter, der den alten absetzt und später von den Streikenden des 17. Juni 1953 in einen Schornstein eigemauert wird. Während sich Lackner raushält, bleibt Rotter bei der Fahne.

Im Dachboden kombiniert Atanassow Szenen vom Begräbnis Rotters Mutter und dem Wiedersehen mit seiner Frau mit Ausschnitten aus dem DEFA-Märchenfilm Das kalte Herz von 1950. Das spiegelt u.a. Rotters Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen und eine dauerhafte Beziehung aufzubauen. Später, wenn Rotter einen Herzanfall erleidet, sagt Lackner auch: „Tatsächlich, das Herz. Ich hab nie gedacht, dass du auch so was hast.“ Der Regisseur bringt auch immer mal wieder den Autor selbst ins Spiel, mit Gedichten oder einem Brief von dessen Vater (einem hohen Tier im SED-Kulturapparat) an den Sohn in der Kadettenschule, dessen Inhalt u.a. besagt, dass ihn der Sozialismus dahin stellen wird, wo man ihn braucht. Die Auszeichnungsfeier am Ende ist als Farce vor einem Präsidium mit DDR-Fahne angelegt. Rotter thront davor wie ein König, der später den Verstand verliert. Atanassow verzichtet auf die Clownsdemontage des gescheiterten Helden, nur die Toten erscheinen ihm wieder und feuern ihn an, weiter zu gehen. Ein Stück deutsche Geschichte, das noch immer nicht beendet scheint.



Rotter durch das Gefängnistheater aufbruch | Foto (C) Thomas Aurin

Stefan Bock - 21. Oktober 2017
ID 10326
ROTTER (Ehemaligen Frauengefängnis SOEHT 7, 17.10.2017)
Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Petra Korink
Dramaturgie: Hans-Dieter Schütt
Musikalische Leitung: Vsevolod Silkin
Produktionsleitung: Sibylle Arndt
Technik: Christopher Böhm
Grafik: Alexander Atanassow
Es spielt ein gemischtes Ensemble aus Freigängern, Ex-Inhaftierten, SchauspielerInnen und Berliner BürgerInnen: Andy D., Bilal, Hans M., Hans-Jürgen Simon, Hasan Adli, Irene Oberrauch, Jean, Maike Specht, Maja Borm, Markus E., Matthias Blocher, Mohamad Koulaghassi, Olivia Beck, Ömer, Patrick Berg, Rita Ferreira, Rose Louis-Rudek, Rosemarie Klinkhammer, Sabine Böhm, Sara Steinert, Seca, Stas und Wolf Nachbauer
Uraufführung am Staatstheater Stuttgart: 21. Dezember 1977
aufBruch-Premiere: 18. Oktober 2017
Weitere Termine: 21., 22., 24.-29.10.2017
Eine Produktion von aufBruch KUNST GEFÄNGNIS STADT


Weitere Infos siehe auch: http://www.gefaengnistheater.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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