Menschheits-
geschichtliches
TERRA IN COGNITA von Jo Fabian
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Foto (C) Marlies Kross
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Bewertung:
Zum Titel des Stücks Terra In Cognita von Jo Fabian (seit dieser Spielzeit neuer Schauspieldirektor am Staatstheater Cottbus) lassen sich gleich mehrere gedankliche Assoziationen bilden. Naheliegend ist die Übersetzung als unbekanntes Territorium, aber auch als lernendes oder auch gegenteilig unbelehrbares Land. „Die Inszenierung Jo Fabians ist der Versuch, die Entwicklungsgeschichte der Menschheit in drei Bildern zu erzählen.“ lautet die Kurzbeschreibung des Abends auf der Website des Theaters. Es ist zunächst aber v.a. ein assoziativer Bilderreigen, der eine an das sanft ironische Musiktheater Christoph Marthalers erinnernde Spielhandlung im Mittelteil rahmt.
Wuchtig ist der Beginn mit einer rhythmischen Choreografie, die einen Einzähler auf einer Galeere zeigt, der mit Trommelschlägen die Ruderer, von denen man nur die durch kleine Bullaugen gesteckten Ruder sieht, antreibt. Im Hintergrund zerfällt die Videoprojektion eines stumm schreienden Frauenkopfs, und unter einem Gazetuch singen die Verdammter der Erde einen Opferchoral. Ein zuvor auf den Vorhang projiziertes Zitat des US-amerikanischen Schriftstellers William Faulkner gibt das Motto des Abends vor. „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Auch Christa Wolf setzte ihrem Roman Kindheitsmuster dieses Zitat voran. Die Erinnerung an eine Vergangenheit aus Kriegen und menschlichem Leid, die bis in die Gegenwart nachwirkt. Jo Fabian verdeutlicht dies in einem animierten Video-Diorama, das die Geschichte der Menschheit von den ägyptischen Pyramiden über Golgatha bis in die Neuzeit mit Bildern von Eroberern, christlichen Erlösern, Fahnenträgern, Agitatoren, Wissenschaftlern und Künstlern einfängt. Der bildende Künstler Joseph Beuys dient hier als Geschichtsbeobachter und bildungsbürgerliche Referent - vom Regisseur vor den Karren seiner sozialen Theaterplastik gespannt samt selbstironischer Publikumsbeschimpfung.
Im zweiten Teil nach der ersten kurzen Pause zeigt die Bühne mit den Bullaugenwänden eine Art Krankensaal mit Betten. Es könnte auch das Innere eines Flüchtlingsschiffs sein, oder ein Arche mit Überlebenden. Ein Motor springt immer wieder stotternd an, aus Blechrohren dampft es, und ein Mann mit Rohrzange irrt verloren durch den Raum. Hier sitzen ein paar Vertreter der Menschheit zusammengepfercht und sich selbst überlassen. Sie dämmern vor sich hin, schimpfen oder brabbeln Unverständliches. Die Welt ein einziges Irrenhaus aus Religion, Vorurteilen und Ideologie. Immer wieder geht einer der Insassen an ein Mikrofon an der Rampe. Der Mieteintreiber zählt Geld, ein Pater im Talar bekommt eine Handentspannung, ein orthodoxer Jude rezitiert aus Schriften Richard Wagners und Friedrich Nietzsches, ein SS-Mann fordert die totale Mietzahlungsverweigerung und fordert den Juden auf, den Davidstern zu tragen, eine blinde und scheinbar traumatisierte Frau droht mit einer Schere. Immer wieder setzen sich alle und singen das Tiroler Volkslied „Fein sein, beieinander bleibn“. Jo Fabian bringt einen politischen und religiösen Querschnitt der Weltbevölkerung aus Christ, Jude und Beduine auf engstem Raum zusammen. Stereotypen und Klischeeträger, die sich gegenseitig das Leben schwer machen und trotzdem verurteilt sind, gemeinsam auf einem untergehenden Dampfer den Weg zu den Rettungsbooten zu finden.
Das ist z.T. recht witzig gemacht, wenn auch mancher allzu plumpe Gag ins Leere laufen mag. Spätestens im dritten, wieder sehr rhythmisch durchchoreografierten Teil findet die Botschaft des Regisseurs seine Adressaten, wenn das gesamte Ensemble in schwarzen Gewändern zum Takt des Einpeitschers vom Beginn zu weiteren Videoeinspielungen eine emotional treibende Bild-Soundcollage performt. Die letzten Worte gehören Charlie Chaplin mit seiner ergreifenden Schlussrede aus dem Film Der große Diktator: „Es tut mir leid, aber ich möchte nun mal kein Herrscher der Welt sein, denn das liegt mir nicht. Ich möchte weder herrschen, noch irgendwen erobern, sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann. Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weißen. Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt.“ In diesem Sinne könnte der Abend auch eine Art Erkenntnisprozess in Gang setzen. „Wer nicht denken will, fliegt raus.“ steht auf einem Flugblatt im Foyer. Und das ist nicht nur für die Region Brandenburg oder die Stadt Cottbus wichtig. Mögen die letzten Sätze da nicht gänzlich ungehört verhallen.
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Terra In Cognita am Staatstheater Cottbus | Foto (C) Marlies Kross
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Stefan Bock - 22. April 2018 ID 10659
TERRA IN COGNITA (Staatstheater Cottbus, 20.04.2016)
Choreografisches Figurentheater von Jo Fabian
Regie/Choreografie/Bühne/Kostüme/Video: Jo Fabian
Vokalkomposition/musikalische Einstudierung: Hans Petith
Schlagwerk-Einstudierung/Sounddesign: Lars Neugebauer
Dramaturgie: Lukas Pohlmann
Mit: Ilona Raytman, Lisa Schützenberger, Michaela Winterstein
Michael von Bennigsen, Kai Börner, Rolf-Jürgen Gebert, Gunnar Golkowski, Thomas Harms, David Kramer, Boris Schwiebert und Axel Strothmann
Uraufführung war am 24. Februar 2018.
Weitere Termine: 03., 29.05. / 20.06.2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatstheater-cottbus.de/
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