Die Lücke im Kopf
DIE AFFÄRE RUE DE LOURCINE im Deutschen Theater Berlin
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Bewertung:
Es muss etwas Schreckliches passiert sein. Auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin ist eine ganze Kolonne Tatortreiniger am Werk. Wer die NDR-Comedy-Serie kennt, die sich durch jede Menge Situationskomik und den trockenen Humor des leicht untersetzten Couch-Philosophen Heiko „Schotty“ Schotte auszeichnet, weiß ungefähr, wie das aussieht.
Hier sind es die Weißwäscher einer hypothetischen Schandtat, und das Bühnenbild des zur Aufführung kommenden Labiche-Stücks Die Affäre Rue de Lourcine ist schon zu Anfang vollkommen aseptisch rein. Es hat den Charme eines Krankenhauszimmers mit weißen Vorhängen und leichter Schräge, die zu einer verdeckten Matratzengruft führt, über deren Eingang ein Kreuz hängt. Dort schläft der wohlhabende Rentier Oscar Lenglumé seinen Rausch aus. Er hat sich am Abend zuvor heimlich aus dem Haus geschlichen, um zum Jahresbankett der Internats-Ehemaligen zu gehen. Durch seinen verschnupften Diener Justin geweckt, stellt der verkaterte Lenglumé eine gewisse Gedächtnislücke nach dem Salat fest. Zudem befindet sich in seinem Bett noch ein unbekannter Mann, der sich schnell als sein ehemaliger Mitschüler Mistingue entpuppt.
Auch der französische Lustspielautor Eugène Labiche ist ein Meister der Situationskomik und des hintergründigen Witzes. Einige seiner satirischen Boulevardkomödien gelten nach wie vor als Renner an den deutschsprachigen Stadttheatern. Man kann durchaus sagen, dass Labiches Stücke auch heute noch ganz gut mit dem allgemeinen Mainstream schwimmen können. Etwas bürgerlicher Spott, etwas Gesellschaftskritik - nur nicht zu viel davon, es soll ja noch Spaß machen. Und so singt man dann auch am Ende der Affäre Rue de Lourcine: „Ist’s vorüber, lacht man drüber, Lachen ist gesund! Kommt man mit dem Schreck davon, hat man einen Grund.“ Das Lachen soll hier also nicht im Halse stecken bleiben, auch wenn sich kurzzeitig ein paar Risse in der bürgerliche Fassade auftun.
Solch ein moralischer Riss manifestiert sich bei Lenglumé durch das, was er glaubt, in jener Nacht nach dem Bankett getan zu haben. Die Lücke in der Erinnerung der beiden Saufkumpane wird mit ein paar verdächtigen Indizien wie Kohlenstückchen, Haarteil, Damenhaube und -schuh, sowie einer Zeitungsmeldung über den Mord an einer Kohlenträgerin gefüllt. Schnell glaubt man, durch den am Tatort gefundenen Regenschirm und ein Taschentuch mit verräterischen Initialen als Täter identifizierbar zu sein. Was folgt, sind verzweifelte Vertuschungsversuche und sogar weitere Morde.
Das alles scheint der Regisseurin Karin Henkel als Inszenierungsmotiv nicht genug. Man soll sich hier ja nicht unter Niveau amüsieren. Dem Ganzen muss also noch eine philosophische Metaebene eingezogen werden. Was zur Folge hat, dass sich alles auf der Drehbühne Befindliche wie Kulissen und Stückpersonal ständig verdoppelt oder sogar verdreifacht. Das kennen wir schon aus der beim Theatertreffen 2014 genau an diesem Ort zu sehenden Inszenierung des Kleist‘schen Doppelgänger-Lustspiels Amphitryon, ebenfalls in der Regie von Karin Henkel. Zur Identitätskrise gesellen sich nun ein paar Wahrnehmungsstörungen und zeitliche Verzerrungen, die die Erkenntnisnöte der beiden delirierenden Möchtegern-Delinquenten noch verstärken. Ein sich ständig weiterdrehender Albtraum.
Das ist zunächst auch ganz eindrucksvoll gemacht. Michael Goldberg und Felix Goeser als Lenglumé und Mistingue sind bis zur inneren Kenntlichkeit entstellt, stehen bedröppelt neben sich oder laufen ihren zeitverzögerten Doppelgängern, die von Christoph Franken und Camill Jammal gespielt werden, nach. Die Szenen wiederholen sich dabei zeitweise oder wirken wie Loops, wenn Anita Vulesica als Gattin des konsternierten Lenglumés wie ein Automat immer wieder sagt: „Oscar, krieg’ ich keinen Kuss?“ Der Diener Justin wird zum bezopften Dienstmädchen und, wechselnd oder auch mal zu dritt, von Wiebke Mollenhauer, Christoph Franken und Camill Jammal gespielt. Letzterer bekommt sogar einen Auftritt als hinzuerfundener Sohn mit Piepsstimme. Alles wirkt dabei irgendwie zombiehaft. Choralartig wird immer wieder zur Musik einer kleinen Orgel gesungen.
In Labiches gut getimter Vorlage bleiben kaum Möglichkeiten der weiteren Überdrehung, ohne dass es im totalen Klamauk enden würde. Allerdings müsste das Angebot eigentlich für eine angemessene Situationskomik reichen. So greift auch Karin Henkel zu den altbekannten, im Text befindlichen Gags wie Austrinken der Blumenvase, Furz- und Rülps-Konzert oder Slapstick-Nummern mit den Requisiten. Nur kann das mittlerweile ein Herbert Fritsch viel besser, der das Stück vor fünf Jahren in Magdeburg inszeniert hat. Karin Henkel setzt dafür konsequent auf Dekonstruktion der bürgerlichen Maske und Selbstgewissheit sowie einen Jekyll-&-Hyde-Effekt, der Mistingue die Morde am angeblichen Mitwisser Potard (Christoph Franken) und gleich in dreifacher Form am Dienstmädchen Justin stellvertretend für Lenglumé ausführen lässt.
Leider kommt dabei nichts wirklich Doppelbödiges zum Vorschein. Ihr abgründiges Doppel-Ich ist den Figuren ja schon mit falschen Nasen und Gebissen ins Gesicht geschrieben. Alles verpufft trotz großer schauspielerischer Anstrengungen wie eine schlechte Pointe. Als wäre eben wirklich nichts geschehen. Das zeigen auch die sich nach hinten wegdrehenden Bühneneinbauten, die den Blick auf ihre Kulissenhaftigkeit freigeben. Es gibt sicher auch Inszenierungen, die ganz gut damit auskommen, was ihnen Labiche vorgegeben hat, ohne dabei so bemüht verkopft-verkatert zu wirken. Der Witz Labiches liegt eben in der Auslassung...
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Foto (C) Arno Declair
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Stefan Bock - 19. Januar 2016 ID 9084
DIE AFFÄRE RUE DE LOURCINE (Deutsches Theater Berlin, 17.01.2016)
Regie: Karin Henkel
Bühne: Henrike Engel
Kostüme: Nina von Mechow
Musik: Arvild Baud
Dramaturgie: Claus Caesar, Hannes Oppermann
Mit: Felix Goeser, Michael Goldberg, Christoph Franken, Camill Jammal, Wiebke Mollenhauer und Anita Vulesica
Premiere war am 17. Januar 2016
Weitere Termine: 20., 22. 1. / 15., 24. 2. / 4. 3. 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.deutschestheater.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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