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Premierenkritik

Selentaumel und Assoziationsgewitter (mit eingestreuten Reflexionen über das Theater)



Erniedrigte und Beleidigte am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) Sebastian Hoppe

Bewertung:    



Da haben sich scheinbar zwei gesucht und gefunden. Es geht um den Theaterregisseur Sebastian Hartmann und den Dramatiker Wolfram Lotz. 2013 hat der damalige Leipziger Intendant des Autors Stück Der große Marsch am Schauspiel Leipzig inszeniert, nun verschränkt Sebastian Hartmann die Hamburger Poetikvorlesung, die Wolfram Lotz im Oktober 2017 hielt, mit dem Roman Erniedrigte und Beleidigte von Fjodor Dostojewski. Der Leipziger ist zum ersten Mal Gastregisseur am Staatsschauspiel Dresden, wo Namensvetter Matthias (seines Zeichens Ex-Intendant des Wiener Burgtheaters) 2016 Dostojewskis Roman Der Idiot inszenierte. Großes Vorbild für beide Romanadaptionen dürfte die eines weiteren Ex-Intendanten sein. Frank Castorfs Inszenierung der Erniedrigten und Beleidigten an der Berliner Volksbühne (2001 in Koproduktion mit den Wiener Festwochen entstanden) muss erst noch getoppt werden. Castorf dürfte dann auch der interessanteste Premierengast in Dresden gewesen sein. In der Länge zieht Sebastian Hartmann mit knapp 3 Stunden schon mal den Kürzeren. Was Spielfreude und Assoziationsfeuerwerk betrifft, dürfte der mittlerweile regelmäßig am Deutschen Theater in Berlin inszenierende Ex-Leipziger aber die Nase vorn haben.

*

Es ist tatsächlich ein recht typischer Hartmann geworden, einer, der die melancholische Düsternis, die seine letzten Berliner Arbeiten bestimmte, mit der überbordenden Assoziations- und Improvisationsfreude seiner Leipziger Ära verbindet. Trockeneisnebel wabert zu Beginn in die vorderen Zuschauerreihen. Das Ensemble irrlichtert über die fast leergeräumter Bühne und beginnt eine große weiße Leinwand mit schwarzer Farbe zu bemalen oder zu besprühen. Auf schwarze Grundierung folgen weitere weiße und wieder schwarze Farbschichten. Videobilder des Leipziger Künstlers Tilo Baumgärtel werden auf die Leinwand projiziert und über den gesamten Abend zu einem Gemälde verdichtet. Ein gemeinsames Gesamtkunstwerk aus Schauspiel und bildender Kunst.

Mit Dostojewskis großem dreiteiligen Fortsetzungsroman über den einstmals berühmten und nun im sterbenden liegenden Schriftsteller Iwan Petrowitsch hat das eher weniger zu tun. Schon mehr mit dem Hadern und Ringen am eigenen Künstlersein und Dasein. Inhaltlich bleibt die Inszenierung sehr vage, zitiert nur punktuell splitterhaft die Handlung. Dostojewskis Romanwerk über die Kunst, das Leben, Lieben und Sterben wird dabei immer wieder assoziativ mit Passagen aus Wolfram Lotz‘ Poetikvorlesung überblendet. Es geht um die Literatur allgemein, Romandichtung gegen Theaterstück, Realismus gegen Wirklichkeit, Aufbau von dramaturgischer Spannung und Inhalt gegen die Form.

Yassin Trabelsi spricht diese Passagen mit großer Intensität direkt ins Publikum, auch wenn die anderen ihn daran hindern wollen. Und wie Moritz Kienemann als Schriftsteller Wanja immer wieder davon spricht, alles aufschreiben zu müssen, so geht es Lotz in seinen Ausführungen genau darum, um das Finden von Sprache, um einen Anfang: „Nix Idee, nix Meinung zu irgendwas, nix interessanter Gedanke, nix psychologisches Problem / Sondern Sound.“ Der Sound als „momentane sprachgewordene Haltung zu den Dingen / Intuitiv Form gewordener Inhalt“. Da nimmt ihn Sebastian Hartmann beim Wort. Hier wird keine einfache Geschichte erzählt, hier entsteht ein polyphones Soundkunstwerk aus Stimmen und Musik. Und dazu schmeißt Hartmann auch immer wieder die Mega-Soundmaschine an. Das ist in seiner Wucht und Vielstimmigkeit zu viel für manchen Dresdner Bildungsbürger, der seinen Dostojewski nicht erkennt, und konsterniert das Weite sucht. Die Bühne nimmt das ironisch auf, wenn da der österreichische Schauspieler Viktor Tremmel meint: „Dös ist ka Dostojewski net.“ Fürs Publikum gibt’s anschließend von Nadja Stübiger die Kurzfassung des Plots.

Eine Dreiecksgeschichte als bürgerliches Trauerspiel wie von Friedrich Schiller geschrieben zwischen der bürgerlichen Natascha (Fanny Staffa), dem adligen Aljoscha (Lukas Rüppel) und Katja (Eva Hüster) aus reichem Hause, die Fürst Walkowski lieber als Schwiegertochter sehe. Als große Rampensau des Abends gibt den das Dresdner Urgestein Torsten Ranft. Er ist in Personalunion der Vater von Aljoscha, der seinen Sohn für eine große Mitgift verschachern will, und auch der von Natascha, Walkowskis Intimfeind. Der Fürst hat seinem einstigen Altruismus aus lange Weile abgeschworen. „Und je tugendhafter eine Handlung ist, um so mehr Egoismus steckt dahinter.“ ist seine ganz materielle Einstellung. Er schwadroniert von Geltungsbedürfnis: „Die ganze Welt ist für mich geschaffen.“, erzählt von Frauenbekanntschaften und mimt mal den kindlichen Indianer und mal den dementer Engel mit schwarzen Flügeln. Dem am Leben und der Liebe kaum teilhabenden Wanja (auch er begehrt Natascha) rät er, sein Geld nicht zu verschwenden.

Der zweite Strang des Romans spinnt sich um die Waise Nelly, Tochter Walkowskis aus einer Affäre. Er hatte die Mutter Nellys einst in den Ruin getrieben. Nun muss die Tochter für die kranke Mutter anschaffen gehen und später selbst an Schwindsucht sterben. Fast surreal wirkt die Bordellszene in einem Waschzuber. Wanja wird sich um Nelly kümmern wie Jean Valjean aus Hugos Roman Die Elenden. Dostojewskis französische Vorbilder sind auch in seinen St. Petersburger Beschreibungen erkennbar. Baumgärtel zaubert dazu Videos mit Großstadtimpressionen an die Bühnenrückwand.

Schwitzend wie im Fieberwahn taumelt Kienemanns Wanja zwischen den andern Figuren oder beobachtet sie vom Rand der Bühne, berichtet vom Petersburger Sonnenuntergang, vom hellem Licht, von der Wirkung eines Sonnenstrahls in der Seele eines Menschen und ist doch dem Tod geweiht. Auch Ranft spricht widerholt von der Angst vor dem Tod. An stetiger Epilepsie leiden hier alle. Doch auch das Theater ist hier ein Patient, der ins Krankenhausbett gehört. Autor Lotz streitet in seiner Vorlesung für die Poesie und wider die Konvention. Trabelsi wettert gegen den sonntagabendlichen Tatort-Wahnsinn. Auch Herbert Fritsch hat unlängst über TV-Serien aus Fertigbauteilen und Legoschauspielerei gesprochen. „Die Welt hat einen negativen Sinn bekommen.“ ist das Credo von Sebastian Hartmanns Abend, der sich hin und wieder in den Slapstick zu retten versucht. Ein Tatort-Regisseur wird Hartmann sicher nicht mehr werden, ihm reicht als Tatort allein die Bühne.



Erniedrigte und Beleidigte am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) Sebastian Hoppe

Stefan Bock - 31. März 2018
ID 10610
ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE (Staatsschauspiel Dresden, 29.03.2018)
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Chorleitung: Christine Groß
Bild/Installation: Tilo Baumgärtel
Lichtdesign: Lothar Baumgarte
Licht: Peter Lorenz
Dramaturgie: Jörg Bochow
Mit: Luise Aschenbrenner, Eva Hüster, Moritz Kienemann, Torsten Ranft, Lukas Rüppel, Fanny Staffa, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi und Viktor Tremmel
Premiere war 29. März 2018.
Weitere Termine: 02., 08., 21., 29.04. / 05.05.2018


Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsschauspiel-dresden.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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