Heute schon
wütend
gewesen?
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Wut am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Es gibt in der heutigen, aufgeregten Zeit mehr als genug Anlässe wütend zu sein; befeuert wird dies oft durch die sozialen Medien. Aktuell bietet wieder mal der Umgang mit dem Internet selbst eine gute Möglichkeit, vor Wut zu schäumen. Die neue Datenschutzgrundverordnung, kurz DSGVO - mit der guten Absicht von der EU erlassen, die Nutzer vor Datenkraken wie Facebook und Google zu schützen, trifft nun in der Umsetzung vor allem die einfachen User selbst. Während die internationalen Konzerngiganten eine Umstellung von ihren Fachleuten umsetzen lassen, werden Vereine, Kleinunternehmen und Selbstständige bei der komplexen Umsetzung der Vorgaben etwa auf der eigenen Website an den Rand ihrer Möglichkeiten gebracht. Denn sie müssen nun horrende Abmahnungen fürchten, weil das lukrative deutsche Geschäftsmodell der Abmahnindustrie nicht eingeschränkt wurde. Wenn man auf den Webpräsenzen der Parteien nach der DSGVO sucht, findet man nur deren Umsetzung auf den jeweils eigenen Websites, jedoch nichts Politisches zum DSGVO-Skandal. Während also die eigenen Schafe ins Trockene gebracht wurden, werden die Bürger wütend im Regen stehen gelassen.
Auch in Elfriede Jelineks 2016 uraufgeführtem Drama Wut geht es um politisches Versagen, Ohnmachtsgefühle einfacher Bürger; und es eröffnet sich ein komplexes Verweissystem intertextueller Ebenen. "Wutbürger" war bereits 2010 Wort des Jahres. Anlass für das Drama war jedoch der Januar 2015 verübte Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Osten von Paris.
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Sascha Hawemann inszenierte das Drama an den Bad Godesberger Kammerspielen als Reise mit unterschiedlichen Stationen, die sich ihrem Thema auch komödiantisch-unterhaltsam widmen. Verschiedene Facetten der Empfindung Wut wurden in einer wortgewaltigen Analyse der Jetztzeit ausgelotet.
Eine Wiedergabe von Charles Trenets bekanntem Chanson „La mer“ von 1943 eröffnete den Abend nichtsahnend-meditativ. Dazu wurden auf einer vor dem Bühnenvorhang herabgelassenen Leinwand heitere Schwarz-Weiß-Videoprojektionen ohne Ton mit Szenen herumturnender Strandbesucher aus der Komödie Les Vacances de Moniseur Hulot von 1953 gezeigt. Bald betrat Laura Sundermann mit Jelinek-Frisur und im grauen Pelzmantel die Bühne. Sie redete angestrengt und konzentriert gegen die stimmungsvolle Musik an. Dabei kontrastierte sie effektvoll mit der hinter ihr projizierten lustig-vergnügten Ferienstimmung. Wie unartige Kinder rannten alsbald die vier übrigen Darsteller hintereinander an ihr vorbei und drohten dabei wiederholt sie umzurempeln. Die konsternierte Monologisierende unterbrechend, meldeten sie sich spontan als vielstimmiger Wutchor zu Wort, der hemmungs- und rücksichtslos „Scheiße“ rief.
Die Filmleinwand wurde hochgefahren, und der rote Samtvorhang öffnete sich. Dahinter wurde ein großes aus Buchstaben bestehendes Gestell mit der leuchtenden Aufschrift „FUREUR“ (frz. für „Wut“) sichtbar. Dieses wurde samt möglicher, darin platzierter Darsteller während des Spiels mit roter Farbe besprüht. Später diente auch ein auf der Bühne platzierter PKW als Handlungsort, in und auf dem gespielt wurde. Neben „Wir sind die Kommenden“ riefen die ausgelassen tobenden Figuren scheinbar unzusammenhängende Slogans wie „Körper, Sport, Krieg, Medien“. Sprachliche Begriffe wurden auseinandergenommen, und in einer Fantasiesprache war für Feministin „Femfotz“ und für Krieg „Fjordfick“ gesetzt. Die US-amerikanische Erfolgsserie Game of Thrones fand Erwähnung, „in der es ja auch nur um Feinde gehe“. Zwei Frauen überprüften, ob ihre Abenteuer-Cam genug Ladekapazität für eine Geiselnahme hat. Ein maskierter Geiselnehmer und eine Frau in Burka gaben sich ein Stelldichein und zückten ein Maschinengewehr.
Momentaufnahmen, Situationen, Dialoge und Monologe wechselten fliegend. Während Holger Fiedler mit seinen wutschäumenden und oft schwer verständlichen Monologen manchmal etwas hilflos-resigniert anmutete, forcierte Christoph Gummert mit Hip-Hop-Moves und teils heruntergelassener Hose eine sehr direkte, anzügliche und konfrontative Art von Wut.
Die Vorführung, die von allgemeiner Unzufriedenheit, dem Aggressionspotential und Terror in unserer Zeit handelt, bot in all ihrer unterhaltsamen Übertreibung viel Stoff zum Nachdenken. Einige Verweise waren dahingehend besonders interessant. So erinnerte eine Szene an das Polizeimassaker vom 17.10.1961 während einer friedlichen Protestkundgebung in Paris. Hunderte für die algerische Unabhängigkeit von Frankreich demonstrierende Nordafrikaner wurden dabei ermordet. Auf der Bühne trugen alle Darsteller kurze dunkle Schnurrbärte und Afroperücken und demonstrierten mit einem großformatigen Banner mit der Aufschrift „ALGÉRIE“. Das rassistische Staatsverbrechen, bei dem viele gegen die Kolonialisierung durch Frankreich demonstrierende Algerier von der Pariser Polizei gefesselt, erschossen, erschlagen und ersäuft wurden, firmierte in Polizeikreisen unter dem Namen Ratonnade (ungefähr: „Rattenjagd“).
Das Drama wendete sich bald von Sicherheitskräften, die auf eine Rattenjagd gingen, ab, und wieder den Juden zu. Nun wurde ausgerufen: „Wir brauchen Wutmaterial. Wir brauchen einen Juden.“ Prompt verkörperte Philipp Basener effektvoll dahinbrabbelnd Woody Allen - jener interessierte sich jedoch vor allem für die 72 im Jenseits versprochenen Jungfrauen des Korans, auf die das Drama bald zu sprechen kam. Gleichwohl, welch Enttäuschung, „Mo“ scheint samt Jungfrauen verhindert. Nur Buddha und Jesus Christus mit dem Kreuze luden zur paradiesischen Liebesorgie, bei der Grenzen „ohne Sorge entsorgt“ und auch von Gottesbildern nicht eingehalten wurden. Glaubensfragen schienen vergessen. Einstimmig rief man: „Poppen, Ficken, Reinkarnieren“.
Im bunten Treiben verkörperten einzelne Darsteller immer wieder die außenstehende Beobachterfigur der Schriftstellerin. So wurde der Handlung eine gewisse Struktur gegeben. In den der Autorin zugeordneten Passagen ging es meist darum, was Kunst heute noch bewirken kann. Bedeutet Wut strukturell patriarchalisch angewandte Kunst? Die Darsteller persiflierten ein bisschen die Autorin, wenn diese die Unterschiede ihrer Weitsichtigkeits- und Bildschirmbrillen betont. In einem sogenannten "heiteren Zwischenspiel" verkörperte Johanna Falckner die kleine Elfie, die erst ihre zerstrittenen Eltern beobachtet, um später eine unabhängige eigene Position zu bestreiten. Gegen Ende hinterließ einen die Vorführung bewusst ohne eindeutige Botschaft, wenn wieder die Stimme der Autorin sinngemäß nachlegt: „Welche Wirrnis statt Wahrheit. Wozu haben sie sich bemüht, mir die ganze Zeit zu folgen? Die Menschen tun mir sowas von Leid. Da weiß ich auch nicht mehr.“
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Wut am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Ansgar Skoda - 22. Mai 2018 ID 10708
WUT (Kammerspiele Bad Godesberg, 17.05.2018)
Regie: Sascha Hawemann
Bühne: Wolf Gutjahr
Kostüme: Ines Burisch
Licht: Sirko Lamprecht
Dramaturgie: Jens Groß
Mit: Philipp Basener, Johanna Falckner, Christoph Gummert, Holger Kraft und Laura Sundermann
Premiere am Theater Bonn: 17. Mai 2018
Weitere Termine: 24.05. / 02., 09., 13., 21.06.2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de
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