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nachDRUCK # 6

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Repertoire

Vom erzählten

Abenteuer des

Erzählens



Peer Gynt am Schauspiel Stuttgart I Foto © Conny Mirbach

Bewertung:    



"Die wundersamsten Neuigkeiten wurden erzählt, die seltsamsten Märchen fanden Glauben, und das gewöhnliche, alltägliche Leben war so völlig aufgelöst, daß jedes Gemüt Wunder und Zauber erwartete…"

Die Einleitung von Ludwig Tiecks Novelle Des Lebens Überfluss von 1839 [s.o.] kommt mir in den Sinn bei Christopher Rüpings Inszenierung von Henrik Ibsens dramatischem Gedicht Peer Gynt (1867), das seinerseits auf norwegischen Feenmärchen beruht. Gleich zu Beginn und dann durchgehend trumpft die Titelfigur mit Schelmengeschichten auf. Peer Gynt wird teilweise von allen sechs auftretenden Darstellern abwechselnd verkörpert. Schelmenromane, wie etwa Michael Köhlmeiers überschätzter Bestseller Die Abenteuer des Joel Spazierer von 2013, liegen wieder hoch im Kurs. Ebenso wie Peer Gynt, dessen Namen zu Beginn gleich mehrere weibliche Stimmen zärtlich, ehrerbietig und als verführerische Versprechung hauchen.

Nach dem Öffnen verschiedener eiserner Vorhänge und schwerer Bühnenrückwände gibt sich endlich Edgar Selge als der ersehnte Titelheld im hintersten Winkel der Bühne zu erkennen. Er schreitet auf die Bühne, einen Scheinwerfer neben sich her rollend. Mit heiserer Stimme und bewegten Gesten beginnt Selge einen Reimmonolog, der von Kämpfen mit Fabeltieren und allerlei wundersamen Erlebnissen erzählt. Ein Raunen geht durch das Schauspielhaus. Gynt kann sich vieler Ohs und Ahs von fünf attraktiven, jungen Frauen, die alle Peers Mütter sein wollen (Julischka Eichel, Caroline Junghans, Svenja Liesau, Nathalie Tiede, Birgit Unterweger), sicher sein. Doch bald sind die Fünf gelangweilt von den realitätsfernen Abenteuergeschichten, mit denen Gynt flunkert und prahlt. Ihre Bewunderung weicht verächtlichen Kommentaren. Jetzt möchte Gynt den mütterlichen Schoß verlassen. Er wählt nun charmant, aber aufdringlich 24 Zuschauerinnen aus dem Publikum aus – auch die Souffleuse ist unter ihnen. Letztere dürfen ihn nach draußen in ein Separee begleiten. Die Mütter bleiben zurück, und als Frauenquintett spielen sie Peer nun gemeinsam sich abwechselnd. Sie entfalten lustvoll mit nur wenigen Requisiten wie Blecheimern, Zinkwannen und Scheinwerfern einen Märchenkosmos.

Eine der stärksten Szenen der Inszenierung beginnt, wenn sie sich in einem mystischen Troll-Land mit farbigen Matsch bewerfen, sich flink gegenseitig als Trollprinzessin respektive Hexe schmücken, gegenseitige Treueschwüre erproben und impulsive und aufgedreht herumtoben. Beendet wird ihr buntes Treiben, als ein Männerchor mit Brautschleiern die entführten Zuschauerinnen im Arm in dieses Trollreich eindringt. Dunkel vibrieren nun in nordischer Sprache romantische Weisen und geheimnisvoll mystische Kompositionen des Norwegers Edvard Grieg. Als Gynts Liebe und Bezugspunkt Solveig nimmt Nathalie Tiede eine Sonderposition ein, als auch Edgar Selge als Gynt auf der Bühne erscheint. Gefilmt von einer Handkamera wird ihr Bild übergroß auf eine Leinwand geworfen, und sie erklärt, sie werde nun nur noch für Gynt da sein, nachdem sie alles Übrige aufgegeben hätte. War sie für Gynt mehr Schein als Sein? Ihn zieht es jedenfalls zusammen mit dem Herrenchor zurück in den Hintergrund und das Abenteuer fernab der Bühne. Die entführten Zuschauerinnen nehmen wieder im Publikum Platz. Solveig kauert fortan mit unbeweglichem Lächeln am Boden auf der linken Bühnenhälfte. Das Frauenensemble verkleinert sich vom Quintett zum Quartett, und letzteres erfindet nun sprunghaft und schnell immer wieder neue Abenteuer Gynts, auch als die Türen zur Pause geöffnet werden. Einzelne Zuschauer und Sänger des Chores dürfen in der Pause eigene Sagen über den Tausendsassa und „Teufelslügenschmied“ beisteuern, die über ein Mikrofon auch im Pausenraum noch gut hörbar sind.

Nach der Pause wird auf die Bühne ein Frachtcontainer mit einem Kistenberg gerollt, den das Quartett nach und nach verteilt, dabei stets neue unglaubliche Histoires um Gynt zum Besten gebend. Plötzlich tritt auch Selge als Gynt wieder ins Scheinwerferlicht. Er ist sichtlich erschöpft von den unzähligen beliebigen, labyrinthhaften Versionen seiner Geschichte und erklärt, er sei „zwar schon Hitler, Stauffenberg, Caesar und Wallenstein gewesen, nie aber Romeo“. Das Publikum darf jetzt abstimmen, ob Gynt in den Schoß seiner großen Liebe Solveig zurückkehrt - wie in Ibsens Vorlage - oder sich im Nichts auflöst. Ein Patt bei der Zuschauerbefragung sorgt dafür, dass sich das Ensemble fürs Nichts entscheidet. Mit sanften aber beharrlichen Stimmen erklären die Frauen Gynt nun, seine Sinnsuche sei beendet, und er dürfe ruhen. Niemand werde sich je an ihn erinnern. Der überraschende Schluss lässt Gynt sichtlich mit sich hadern und stimmt nachdenklich. Begleitet wird er wieder von mystisch-stimmungsvollen Melodien des Herrenchors (Musik: Christoph Hart).

Obwohl der dreißigjährige Rüping, der dieses Jahr mit seiner Stuttgarter Das Fest-Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, Ibsens Werk und Symbolik stark kürzt, bereichert er Peer Gynt auch um neue Handlungsebenen inklusive unterhaltsamer Improvisationen, die den Stoff in einem neuen Licht erscheinen lassen: Wie schwer es manchmal sein kann, selbst und gleichzeitig attraktiv für andere zu sein.



Caroline Junghanns und Edgar Selge in Peer Gynt am Schauspiel Stuttgart I Foto © Conny Mirbach

Ansgar Skoda - 4. Juli 2015
ID 8746
PEER GYNT (Schauspiel Stuttgart, 02.07.2015)
Regie: Christopher Rüping
Bühne: Jonathan Mertz
Kostüme: Anna Maria Schories
Musik: Christoph Hart
Licht: Sebastian Isbert
Chorleitung: Wilhelm Bäuml
Dramaturgie: Bernd Isele
Mit: Caroline Junghanns, Svenja Liesau, Edgar Selge, Nathalie Thiede, Birgit Unterweger und Julischka Eichel sowie dem Herrenchor (mit Alfred Ankele, Wolfgang Ebert, Andreas Fett, Eberhard Fichtner, Heinz Fischer, Hilmar Friedel, Achim Geissinger, Walter Grupp, Harald Hald, Peter Hoffmann, Reinhard Kärcher, Thilo Kreiser, Peter Maciolek, Roland Möll, Edmund Ortwein, Tilman Peters, Werner Schlereth, Achille Stabile, Hartwig Stahl, Otto Strobel, David von Szilagyi, Martin Uhlirz, Eugen Völlm, Klaus Weinmann, Claus Wild, Detlev Wolf und Herbert Wolkenstein)
Premiere war am 20. Juni 2015
Weitere Termine: 10. + 17. 7./ 17., 28. + 31. 10. 2015


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de/


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de



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