Witzige
Geschichts-
aufarbeitung
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Wolokolamsker Chaussee I-V auf der Hinterbühne des Schauspiels Leipzig - Foto (C) Rolf Arnold
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Bewertung:
Unter das Motto Zeiten des Aufruhrs hat das Schauspiel Leipzig unter Enrico Lübbe seine zweite Spielzeit gestellt, in der sich sowohl der Fall der Berliner Mauer im November 1989 als auch die im Oktober vorangegangenen friedlichen Protestdemonstrationen in der Stadt Leipzig zum 25. Mal jähren. Just in diese Zeit fiel auch eine Inszenierung von Heiner Müllers in fünf Lehrstücken angelegtes Drama Wolokolamsker Chaussee I-V. Daran versucht nun eine Neuinszenierung von Philipp Preuss auf der Hinterbühne des Schauspiels zu erinnern. Müller schrieb die Texte 1985-87 in Reaktion auf die durch Michail Gorbatschow eingeleitet Zeit von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion. Einer der Ausgangspunkte für die Ereignisse im Herbst '89 in der ehemaligen DDR. Auch Heiner Müller sah die Situation reif für Veränderungen, allerdings nicht ohne aus der deutschen Vergangenheit zu lernen. „Das ist der Moment, wo wieder gelernt werden kann, gelernt werden muss.“
In den fünf Teilen greift Müller literarische Stoffe von Alexander Bek (dessen Roman Wolokolamsker Chaussee), Anna Seghers (Das Duell), Franz Kafka (Kentauren - ein Greulmärchen aus dem Sächsischen von Gregor Samsa) und Heinrich von Kleist (Der Findling) auf. Wie ein roter Faden zieht sich dabei von 1941 vor Moskau über 1953 in Ost-Berlin und 1968 in Prag bis in die 1980er Jahre der DDR das Motiv des Panzers, „der seine Kettenspur durch meinen Traum zieht“, wie es der junge Kommandeur einer sowjetischen Division im Kampf gegen die Deutschen vor Moskau auf der titelgebenden Wolokolamsker Chaussee - „zweitausend Kilometer weit Berlin, einhundertzwanzig Kilometer Moskau“ - berichtet. Phillip Preuss lässt sie gleich zu Beginn als Videoprojektion alter Filmdokumente über die Rückwand der Bühne fahren.
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Wolokolamsker Chaussee I-V auf der Hinterbühne des Schauspiels Leipzig - Foto (C) Rolf Arnold
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Das Hervortreten und wieder Verschmelzen des Einzelnen im Kollektiv ist neben Macht und Verrat ein weiteres Thema in Müllers Fünfteiler. Regisseur Preuss lässt seine sechs Protagonisten (Daniela Keckeis, Lisa Mies, Denis Petković, Felix Axel Preißler, Mathis Reinhardt und Sebastian Tessenow) in Camouflage-Anzügen vor gleichgemusterter Tapete und Fußboden auftreten (Bühne und Kostüme: Ramallah Aubrecht). Es ist die sog. Russische Eröffnung nach Beks' Roman, in der besagter Kommandeur aus verängstigten Individuen, die lieber in die russischen Wälder flüchten würden, ein Gemeinschaft formen muss. „Ich war ihr Kommandeur und meine Angst war / Die Angst vor ihrer Angst Und näher kam / Die Front und von der Front die Deserteure“. Er statuiert schließlich ein Exempel und lässt einen Deserteur erschießen. Die Angst wird ihn weiter in seinen Träumen verfolgen.
Preuss lässt das chorisch oder mit wechselnden Stimmen vortragen. Die Darsteller stehen dabei mit dem Rücken zur Wand, mit der sie nun tatsächlich förmlich verschmelzen, oder sprechen direkt vor den Sitzreihen der Hinterbühne ins Publikum. Sie formen ein MG aus ihren Leibern und marschieren zum Rolling-Stones-Song "Sympathie for the Devil". Als Schuss knallt ein Sektkorken. Der Zweifel über die Entscheidung klingt im fragenden Ton der Sprecher. Zwischen den einzelnen Teilen spielt Preuss per Video Interviewpassagen aus dem Making Of des Films Der Untergang als eine andere Art der kollektiven Geschichtsbildung ein. Die Darsteller performen das mit großen Mon-Chichhi-Köpfen.
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Wolokolamsker Chaussee I-V auf der Hinterbühne des Schauspiels Leipzig - Foto (C) Rolf Arnold
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Preuss verlässt nun immer wieder die ernsthafte Bedeutungsebene von Müllers Texten zugunsten des Slapsticks. Zwischen Wolokolamsker Chaussee I und II schiebt er das Gesprächsduell eines Betriebsdirektors mit seinem Stellvertreter ein. Hier reflektiert Müller die Ereignisse um den 17. Juni 1953. Während der jünger Stellvertreter als Delegierter eines Streikkomitees vor dem älteren Direktor sitzt, hofft dieser, einst Nazi-Verfolgter, auf die sowjetischen Panzer als letztes Argument und Wiedergeburtshelfer der jungen Republik. Dabei sitzen sich Daniela Keckeis und Lisa Mies mit angeklebten Bärten gegenüber. Ihren Text sprechen die anderen aus dem Hintergrund und machen mit Mikros Geräusche. „Soll das ein Witz sein Willst du meinen Stuhl“, heißt es da. Ein grotesker Machtkampf, der laut furzend in die Hose geht.
Danach geht es nochmal in die russischen Wälder zu choreografierten und von oben gefilmten Synchronschwimmeinlagen auf dem Camouflageboden. Die Darsteller bilden dabei mit Armen und Beinen lebende Blütengeflechte und auch mal den Sowjetstern, oder sie heben wechselseitig die Faust bzw. den ausgestreckten Arm. Die verlorengegangene Sowjetordnung und das Machtgefüge von Befehl und Gehorsam werden mit dem Degradieren eines pflichtvergessenen Sanitätsoffiziers wieder hergestellt. Für die hungernden Soldaten gibt es Blutsuppe aus Eimern, für die Toten ein Kyrie Eleison aus Mozarts Requiem. Den Ziehvater-Findling-Konflikt zwischen einem alten Kommunisten und Parteifunktionär und seinem abtrünnigen Sohn, der sich rund um den nächsten Panzereinsatz 1968 in Prag dreht, gibt es wieder als Wechsel aus Einzel- und Gruppenaufstellungen.
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Wolokolamsker Chaussee I-V auf der Hinterbühne des Schauspiels Leipzig - Foto (C) Rolf Arnold
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Bevor dann aber tatsächlich noch ein aufblasbarer Gummi-Panzer auf der Bühne erscheint, setzen sich die Spieler rauchend und Whiskey trinkend zusammen und lauschen der Einspielung einer Lesung, bei der Heiner Müller seinen Kentauren zum hörbaren Vergnügen seiner selbst und der dort Anwesenden humorvoll zum Besten gibt. Da wiehert fröhlich der Amtsschimmel - „Gefallen auf der Straße der Dialektik“. Die Farce um einen mit seinem Schreibtisch verwachsenen DDR-Ordnungshüters wird so ironisch noch auf die Spitze getrieben. Das toppt nur noch die abschließende Mon-Chichhi-Parade, bei der schenkelklopfend DDR-Witze erzählt sowie leere Verpackungen von Konsumgütern (Marke West) ans Publikum verteilt und anschließend wieder eingesammelt werden. Die Fortsetzung der Müller'schen Geschichtsaufarbeitung als täglicher Krieg der Waren. Dabei geht dem Panzer als dialektisches Symbol der kapitalistischen Ökonomie so ziemlich die Luft aus. Wir lesen als Ausblick in die (nahe?) Zukunft an der Videowand: „Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus.“
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Stefan Bock - 10. Dezember 2014 ID 8314
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE I-V (Hinterbühne, 07.12.2014)
Regie & Video: Philipp Preuss
Bühne & Kostüme: Ramallah Aubrecht
Dramaturgie: Alexander Elsner und Christin Ihle
Licht: Veit-Rüdiger Griess
Mit: Daniela Keckeis, Lisa Mies, Denis Petković, Felix Axel Preißler, Mathis Reinhardt und Sebastian Tessenow
Premiere war am 10. Oktober 2014
Weitere Termine: 29. 12. 2014 / 24. 1.; 8. 2.; 15. 3. 2015
Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-leipzig.de
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