53. THEATERTREFFEN | Berlin, 6. - 22. 5. 2016
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Elegisch
MITTELREICH durch die Münchner Kammerspiele
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Bewertung:
Es beginnt mit einer Beerdigung und endet mit dem Warten auf den Tod. Anna-Sophie Mahler lässt dazu Brahms' Ein deutsches Requiem spielen, das auch zum großen Begräbnisakt des Seewirts Pankraz Birnberger gespielt wird. „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ heißt es da im ersten Satz. Leid ist auch viel, Trost weniger im autobiografisch angehauchten Roman Mittelreich des bayerischen Film- und Theaterschauspielers Josef (Sepp) Bierbichler, den die junge Regisseurin und ehemalige Assistentin von Christoph Marthaler und Christoph Schlingensief für die neuen Münchner Kammerspiele unter Matthias Lilienthal adaptiert hat.
Bierbichler ist ein körperlich starker Mime, der neben einigen stillen Momenten, in denen er selbst gern singt, auch mal kraftvoll auf der Bühne Holz hacken kann. Holzschlachten. Ein Stück Arbeit hieß ein Soloabend an der Berliner Schaubühne von und mit ihm, bei dem er Vergangenheitsbewältigung mit der Axt betrieb. Kraftvoll ist auch die ans Bayerische angelehnte Kunstsprache seines Romans über den Aufstieg und Niedergang einer Wirtsfamilie am Starnberger See, die über drei Generationen Vergangenheit verdrängt. Dabei erlebt der Leser ein gutes Stück deutsche Geschichte vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik, den Zweiten Weltkrieg, Flucht und Vertreibung, die Wirtschaftswunder-Nachkriegszeit bis hinein in die 1980er Jahre des NATO-Doppelbeschlusses aus der Perspektive der ländlichen Bevölkerung mit ihrer katholisch geprägten Tradition.
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Diese Kraft der Sprache soll in der nun zum Theatertreffen nach Berlin eingeladenen Inszenierung von der pathosgeladenen, kathartisch wirkenden Musik Brahms‘ übernommen werden. Unter der musikalischen Leitung von Bendix Dethleffsen spielt ein kleines, mit zwei Flügeln und Pauke instrumentiertes Ensemble im Orchestergraben. Der Chor des Jungen Vokalensembles München singt vom 1. Rang, marschiert auf der Bühne auf, gibt sich mal als Statisterie, mal als tragendes Element. Das ist gut gedacht und auch wirkungsvoll in der Umsetzung der Musikpassagen, allein das Spielerische hinkt dem doch vor allem im ersten Teil vor der Pause etwas hinterher.
Anna-Sophie Mahler beschränkt die Spielszenen stark auf das rein Familiäre, was natürlich auch im Buch einen breiten Raum einnimmt, nicht zuletzt, weil die Seewirtschaft während des Zweiten Weltkriegs Ausgebombte aus (dem hier immer Hauptstadt genannten) München und nach dem Krieg Flüchtlinge aus dem Osten aufnehmen muss. Wer aber den Roman nicht gelesen hat, dem wird hier Einiges, was die Inszenierung nur anreißt, doch zum tieferen Verständnis fehlen. Die Übergabe des Erbes und der Verantwortung vom alten Seewirt (Stefan Merki) zum jungen (Thomas Hauser), der lieber eine Gesangskarriere begonnen hätte, erfolgt hier mit dem Wechsel des Jacketts. Familiengründung mit der Lothoftochter Theres (Anette Paulmann) nebst Kinderkriegen und Einzug zum Kriegsdienst folgen im Schnelldurchlauf. Daneben wird die Vorgeschichte des ostpreußischen Fräuleins Zwittau (Damian Rebgetz) mit einer Fast-Vergewaltigung durch die Russen erzählt.
Gespielt wird das alles auf einer leeren Bühne als Gastraum mit Tisch und Stühlen vor zunächst noch geschlossener Faltwand, die dann später einen weiteren, fast identischen Raum mit abgeblätterter Wand- und Deckenfarbe freigibt. Spätestens hier tritt ein erster Marthalereffekt ein, der sich durch die recht statische, fast elegische Spielweise vor der Pause noch verstärkt. Nach etwa einer Stunde wird bei stark gedämpftem Licht noch recht dramatisch der Sturm in der ersten Nachkriegsfaschingsfeier im Wirtshaus gegeben, bei dem das Dach vom Hause wegzufliegen droht. Ein schwerer Kampf mit sich und der Natur sowie ein entscheidender Schnitt für den Seewirt Pankraz (jetzt dargestellt durch Stefan Merki), der nun gänzlich sein Hadern mit dem eigenen Schicksal, gegen die Verantwortung gegenüber dem „verfluchten“ Erbe und der Familie eintauschen muss.
Als fast stummer Beobachter sitzt die ganze Zeit am Rand Pankraz‘ Sohn Sebi (Steven Scharf), der zunächst noch leise erste Fragen nach dem „was der Wehrmachtssoldat, der mein Vaters war, im Krieg gemacht hat“ stellt und erst nach der Pause immer stärker in den Mittelpunkt der Handlung rückt. Ins Klosterinternat abgeschoben, erlebt Sebi körperliche Nähe nur beim Turnen, was in drastische, stotternd vorgetragene Schilderungen von sexuellem Missbrauch durch einen Pater mündet. Hier gelingen Anna-Sophie Mahler ein paar eindrückliche Bilder, bei der sie den Vortrag Scharfs mit der Szene vom Sauschlachten und dem nackten Körper von Thomas Hauser verbindet. Wer den Roman kennt, kann das auch mit dem späteren, furchtbaren Mord am Pater assoziieren. Etwas verunglückt dagegen die Verkörperung des Fräulein Zwittau in einer Travestienummer. Ihr Anderssein als tragisches Zwitterwesen kann zumindest noch für die Abneigung der Seewirtsfrau gegen alles Fremde herhalten, während die Missbrauchsvorwürfe von Sebi unerhört an ihr abperlen.
Das Politische und die Schilderung der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte mit ihrer nicht nur auf dem Land versäumten „Entnazifizierung“, die sichtlich bis heute nachwirkt und für die Bierbichler vor allem in einigen Kneipenszenen starke Worte findet, erschöpft sich hier auf die späte Kriegsbeichte des 70jährigen Seewirts, der der Vergasung von jüdischen Kindern in seinem Feldküchenwagen tatenlos zusah. Die Toten wie das Fräulien Zwittau, die gelähmte Mutter, der Seewirt und der treue, aus Schlesien stammende Knecht Victor (Jochen Noch) gehen in den Orchestergraben ab, bis nur noch der an Vergangenheit wie Zukunft gleichermaßen verzweifelnde Sebi auf der leeren Bühne zurückbleibt und die Klappe des Plattenspielerschranks, der musikalischen Wirtschaftswundermaschine des Vaters, zutritt. Das geht tief, und das „Deutsche Requiem“ ist hier wieder beim Anfang angelangt. „Und der Seewirt begriff, daß Kunst Leben ist. Und Leben Geschichte. Und Geschichte Menschheitsgeschichte.“ Bei Anna-Sophie Mahler bleibt das ein wenig Behauptung.
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Mittelreich von Sepp Bierbichler an den Münchner Kammerspielen | Foto (C) Judith Buss
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Stefan Bock - 20. Mai 2016 ID 9321
MITTELREICH (Deutsches Theater Berlin, 18.05.2016)
Regie: Anna-Sophie Mahler
Bühne: Duri Bischoff
Kostüme: Pascale Martin
Musik und musikalische Leitung: Bendix Dethleffsen
Dirigentin: Julia Selina Blank
Licht: Jürgen Tulzer
Dramaturgie Johanna Höhmann
Übersetzung: Anna Galt
Übertitelung: Yvonne Griesel (Sprachspiel)
Besetzung:
Semi ... Steven Scharf
Junger Semi / Junger Seewirt ... Thomas Hauser
Alter Seewirt / Seewirt ... Stefan Merki
Theres / Kammersängerin ... Annette Paulmann
Victor ... Jochen Noch
Fräulein von Zwittau ... Damian Rebgetz
Musiker: Bendix Dethleffsen, Stefan Wirth sowie Sachiko Hara oder Manfred Manhart (Flügel), Anno Kesting (Pauke) und das Junge Vokalensemble München (Chor)
Statisterie: Renate Krämer und Anna Molitor
Uraufführung an den Münchner Kammerspielen war am 22. November 2015
Gastspiel zum Berliner THEATERTREFFEN 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-festspiele.de/theatertreffen
Post an Stefan Bock
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