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56. Berliner Theatertreffen

MÜNCHNER KAMMERSPIELE

mit DIONYSOS STADT


Bewertung:    



Der mehrstündige Theaterevent ist so alt wie das Theater selbst. In der Antike erstreckten sich diese Festspiele, die nach dem Gott der Ekstase und des Rausches Dionysien genannt wurden, sogar über 5 Tage. In der heutigen Zeit kaum noch vorstellbar gab es dabei sogar Geld für den Verdienstausfall und Wein umsonst. Kein schlechtes Modell, um Leute ins Theater zu bekommen. Doch bei knappen Haushaltskassen muss man sich heute schon etwas anderes einfallen lassen. Was bei Frank Castorfs regelmäßigen Siebenstündern funktioniert als eine gemeinsam verbrachte Zeit des Erleidens und Lernens, hat es in Abständen im deutschsprachigen Theater immer mal wieder gegeben. Man denke nur an Peter Steins 24-Stunden-Faust und 10-Stunden-Wallenstein, an Luk Percevals 12-Stunden-Reigen nach Shakespeares Rosenkriegen namens Schlachten! oder noch einmal Goethes Faust 1 und 2 in 8 Stunden von Nicolas Stemann. Von den legendären Theaterevents eines Vegard Vinge wollen wir gar nicht erst reden. Einige dieser Inszenierungen waren auch zum THEATERTREFFEN eingeladen.

*

Mit Dionysos Stadt zeigt nun Christopher Rüping - nach Das Fest (2014) und Trommeln in der Nacht (2018) nun schon zum dritten Mal in der 10er-Auswahl hier vertreten - seinen an den Münchner Kammerspielen entstanden 10stündigen Antikenmarathon, der sich explizit auf besagte Dionysien beruft. Gefeiert wird viel am Theater, und wer weiß schon heute noch, was die Altvorderen zu ihrer Zeit so getrieben haben. Messen lassen muss sich Rüping da mit mindestens zwei weiteren Antikenprojekten. 2002 brauchte Andreas Kriegenburg nur 5,5 Stunden für seine Inszenierung der Orestie in der Münchner Jutierhalle, die 2003 beim TT in der Arena Berlin zu sehen war. 2014 eröffnete dann Karin Beier mit dem 6,5stündigen Antiken-Marathon Die Rasenden ihre Intendanz am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Kern all dieser Antikenadaptionen ist der Trojanische Krieg und die Geschichten um das griechische Geschlecht der Atriden, das wir u.a. aus der Orestie des Aischylos kennen.

So gesehen hat jede Generation ihren ganz bestimmten Erweckungsevent. Und nun ist eben die Zeit des Christopher Rüping, der zu Beginn Nils Kahnwald als netten Erklärbär an der Rampe erstmal etwas zum Funktionieren des Abends erzählen lässt. Was für gewöhnlich als No-Go am Theater gelten dürfte, will hier aber über das gemeinsame Einverständnis, sich auf den Abend einzulassen, auch mit eventuellen Vorbehalten im Publikum spielen und einladen, nicht nur über eine sogenannte Raucherampel am Geschehen auf der Bühne teilzuhaben. Außerdem referiert Kahnwald ganz nebenbei über den Kern der Inszenierung, in der es ja viel auch um Zeit, vergangene wie zukünftige, geht.

Irgendwann wird sich das in einem der vier Teile des Abend (getrennt durch drei Pausen) wiederfinden, wenn Gro Swantje Kohlhof als Kassandra im Troerinnen-Teil die Geschichte des Trojanischen Krieges als Zukunftsvision rückwärts laufend erzählt. An deren Ende und möglichem Neubeginn steht ein Menschenpaar vor Prometheus, der zur Strafe dafür, dass er ihnen das Feuer gab, vom Gottvater Zeus an den Kaukasus geschmiedet wurde. „Hier bin ich, und bin Herr meines Schicksals.“ ruft es ihm zu. Um Schicksal dreht sich ja auch die gesamte griechische Mythologie und Dramenkunst. Und auch um die Hybris des Menschen, der, kaum dass er das Feuer hat, eine Geschichte aus Krieg und Leid entfesselt. Rüping stellt den Prometheus als Schöpfer an den Anfang seiner Inszenierung und lässt ihn in Gestalt von Benjamin Radjaipour weißgekalkt von Vogelgott in einem Käfig von der Bühnendecke hängen, während ein arabisch und englisch sprechender Zeus (Majd Feddah) ihn nach dem Grund, den Menschen das Feuer zu geben, befragt.

3000 Jahre, die Prometheus bis zu seine Befreiung durch Herakles am Kaukasus hängt, sind eine lange Zeit. Das Vergehen von Zeit demonstriert auch dieser erste Teil, bei dem neben den Zeus-Disputen („Ich bin euer Gott, ich bin die Ewigkeit“) nicht allzu viel passiert. Die von Zeus in eine Kuh verwandelten Io (Maja Beckmann) schaut noch auf einen Schwatz vorbei, während das übrige Ensemble unter Fellen blökende Schafe spielt. Hintendran gibt es dann noch Heiner Müllers von Wiebke Mollenhauer vorgetragenen recht pessimistischen Text Befreiung des Prometheus. Trotz allem lässt sich zuvor noch jenes vom Götterwillen befreite erste Menschenpaar per Stagediving zur Vangelis-Hymne "Conquest Of Paradise" vom Publikum durch den Saal tragen.

Nach der ersten Pause zieht die Inszenierung nicht nur in der Lautstärke an. In einer sehr intensiven Spoken-Words-Performance mit Schlagzeugverstärkung (Matze Pröllochs) und Videoprojektionen auf ein die Stadt Troja darstellendes Bühnengerüst trägt zunächst Jochen Noch minutenlang eine Aufzählung des griechischen Flottengeschwaders aus Homers Ilias vor, bis die anderen SchauspielerInnen mit Schlachtpassagen, die sich um den Tod des von Hektor erschlagenen Patroklos und Achills Rache am trojanischen Prinzen drehen, einstimmen. Pathetischer Heldenmythos kontra Klage der Troerinnen, die im Anschluss von Rüpings Interpretation die siegreichen Griechen, die sie als Sklavinnen fortführen wollen, ziemlich jämmerlich aussehen lassen, aber auch wie die Furien um die „Hure Helena“ kreisen. Ein starker Auftritt, der gut auch als separate Aufführung funktionieren würde.

Danach folgt dann die Orestie tatsächlich als TV-Soap, die die ganze Atriden-Saga um den Mord am heimkehrenden Agamemnon und die Rache von Elektra und Orest an Klytaimnetra und Aigisthos bis zum Urschleim des Fluchs zu Atreus und seinem Bruder Thyestes zurückführt und mit viel Livekamera und Kunstblut als fast schon küchenpsychologisches Familiendrama in einem Küche-, Bad-, Esszimmerambiente aufdröselt. Das mündet schließlich in eine griechische Hochzeit mit Tanz und Ouzo für alle aus dem Publikum, die es zur Party auf die freigegebene Bühne schaffen, und neben einem Nacktauftritt von Nils Kahnwald als Orest am Ende auch noch Matze Pröllochs als heilsstiftenden Apollon ex machina vom Bühnenhimmel schweben lässt.

* *

Nach gut 8 Stunden fragt man sich dann schon, wie das nun enden soll. Gescheitert oder in Schönheit glänzend? Als Satyrspiel gibt’s am Ende Fußball und den von Nils Kahnwald vorgetragenen Essay La Mélancolie de Zidane des belgischen Autors Jean-Philipp Toussaint über dessen Gedanken zum Kopfstoßfaul von Zinédine Zidane im WM-Endspiel 2006, was man durchaus auch als Reflexion des nach einem würdigen Ende suchenden Regisseurs auffassen kann. Die Chuzpe, mit der Christopher Rüping dieses fast 10stündige Vorhaben hier durchzieht, ist dann bei aller Kritik doch auch recht bemerkenswert. Ein Spielen mit den Theatermitteln, das im Orestie-Teil (gewollt oder nicht) auch Events wie das gerade im Festspielhaus abgefeierte Hotel Strindberg von Simon Stone parodiert.



Dionysos Stadt durch die Münchner Kammerspiele | Foto (C) Julian Baumann

Stefan Bock - 12. Mai 2019
ID 11408
DIONYSOS STADT (Haus der Berliner Festspiele, 11.05.2019)
Regie: Christopher Rüping
Bühne: Jonathan Mertz
Kostüme: Lene Schwind
Video: Susanne Steinmassl
Musik: Jonas Holle und Matze Pröllochs
Licht: Stephan Mariani und Christian Schweig
Dramaturgie: Valerie Göhring und Matthias Pees
Host und Environment: Felix Lübkemann
Mit: Maja Beckmann, Majd Feddah, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer, Jochen Noch und Benjamin Radjaipour
Premiere an den Münchner Kammerspielen: 6. Oktober 2018
Weitere Termine in München: 29., 30.06. / 06.07.2019
Gastspiel zum 56. Berliner Theatertreffen


Weitere Infos siehe auch: https://www.muenchner-kammerspiele.de/


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