Macken,
wohin
man
sieht
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Versetzung von Thomas Melle am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair
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Bewertung:
Mit seinem als Auftragswerk für das Deutsche Theater entstanden Stück Versetzung überführt der Schriftsteller und Dramatiker Thomas Melle seinen autobiografischen Prosatext Die Welt im Rücken (von Jan Bosse am Burgtheater Wien als Solo für Joachim Meyerhoff inszeniert) in eine fiktionale Dramenform. Es geht darin um den sehr engagierten Lehrer Ronald, der wie Melle an einer bipolaren Störung leidet. Allerdings gibt es in diesem explizit für die Bühne geschriebenen Text wie auch schon in Melles Stück Bilder von uns viele monologische Passagen in reinster, recht eindrucksstarker Prosa.
In der Inszenierung von Brit Bartkowiak, die bereits einige Bühnentexte von Melle aufgeführt hat, nehmen diese Passagen dann auch einen ganz besonderen Stellenwert ein. Sie sind zur charakterlichen und psychologischen Einordung der Figuren in Bezug zur Hauptperson auch eminent wichtig. Die Regisseurin lässt ihre DarstellerInnen dabei jedes Mal entsprechend deutlich aus der Spielsituation aussteigen. Eröffnet wird der Abend allerdings mit einer Art Unterrichtsstunde, bei der Lehrer Ronald vor dem Eisernen Vorhang versucht seinen Schülern etwas über die psychologische Wirkungsweise von Wörtern und Beschimpfungen, im Speziellen des neuerdings verwendeten Schimpfworts „Opfer“, zu vermitteln. Hauptdarsteller Daniel Hoevels hält hier einen glühenden Vortrag zum Thema Diskurs als Mittel zur Konsensfindung sowie Herausbildung sozialer Regeln und Normen.
„Worte sind Taten“, erklärt Ronald seine Schülerschaft, die mit der Frontalanrede ans Publikum klar definiert ist, und bekennt sich dazu immer lieber das Opfer als der Täter sein zu wollen. Auch das eine durchaus wichtige Einführung, da es im folgenden Drama auch genau darum geht, wie einem Menschen die Deutungshoheit über Gesagtes immer mehr entgleiten kann und ihm daraus gewonnene Vorurteile sowie Neid und Hass der anderen schließlich zum Verhängnis werden. Eingeführt wird der Lehrer Ronald als integre Person, die von den Schülern verehrt, von den Kollegen geachtet und schließlich vom Direktor wegen seiner nachgewiesen Kompetenz und Charakterstärke zu seinem Nachfolger erkoren wird. Symbolisch überreicht hier der etwas überspannte Rektor Schütz (Helmut Mooshammer) Ronald die Fischfutterdose seines übergroßen Aquariums als Vermächtnis.
Bartkowiak versucht hier den zugegebener Maßen etwas zu pathetisch geratenen Text Melles immer wieder durch fein ironisches Spiel aufzulockern. So geraten etwa auch die Dialoge zwischen Ronald und seiner Frau Kathleen (Anja Schneider) etwas aus dem Ruder. Erst freut man sich euphorisch über den kommenden Nachwuchs, und dann geht die Beziehung dramatisch in die Brüche, als Roland die verschwiegene Vergangenheit seiner Krankheitsgeschichte wieder einholt. "Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt" ist der volkstümliche Begriff zur Erklärung von Ronalds bipolaren Schüben, wie es Rektor Schütz im klärenden Gespräch vor den besorgten aber auch lauernden Kollegen (Judith Hofmann, Christoph Franken) so dahinsagt. Etwas krasser formuliert es der Betroffene selbst.
Der sich zur Erklärung Genötigte kann dem Lehrerzimmerklatsch und den böswilligen Nachreden des Elternsprechers Lars Mollenhauer (Michael Goldberg) und Manu Cordsen (Birgit Unterweger), einer rachsüchtigen Verflossenen Ronalds, bald nichts mehr entgegensetzen. Der eine geriert sich als militanter Impfgegner und Verschwörungstheoretiker, die andere spielt den Männer verschlingenden Vamp. Beide sind sie Eltern von Leon (Caner Sunar), einem Einzelgänger und Computerspielfreak sowie der Klassenbesten Sarah (Linn Reusse), die sich gegenseitig beharken, bis der Jungen trotz der Versuche Ronalds positiv auf ihn einzuwirken, explodiert und gewalttätig wird. Das ist bisweilen nah am Klischee gebaut, soll aber den allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Wahn nicht nur im Schulalltag verdeutlichen. Die Sprache als Vermittler von Wahrheit versagt hier nicht nur bei Ronald.
Der Lehrer verhört sich immer wieder als Zeichen eines beginnenden psychotischen Schubs. Man kann sich das natürlich auch als Divergenz von Gesagtem zu Gedachtem vorstellen. Die Lage samt quadratischer Bühnenplattform kippt schließlich. Von Kippfiguren spricht auch einmal Ronald, der psychisch zusammenbricht, beginnt in Versen zu reden, bis er ganz ausflippt und von den Kollegen ans Aquarium gefesselt wird. Das Ganze ist als dramatische Krankengeschichte recht ergreifend, funktioniert allerdings auch gut als soziale Parabel, was die Inszenierung anstelle eines kollektiven Chors am Ende etwas deutlicher hätte ausführen können. Der bipolare Ronald wird zum Opfer einer Gesellschaft, die keine Abweichungen von der Norm duldet, obwohl hier jeder sein eigenes stilles tiefenpsychologisches Trauma oder Steckenpferd hat und nicht ganz ohne Macken ist.
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Versetzung von Thomas Melle am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair
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Stefan Bock - 24. November 2017 ID 10392
VERSETZUNG (Kammerspiele, 23.11.2017)
Regie: Brit Bartkowiak
Bühne: Johanna Pfau
Kostüme: Carolin Schogs
Musik / Sounddesign: Joe Masi
Chor-Einstudierung: Bernd Freytag
Dramaturgie: David Heiligers
Mit: Daniel Hoevels, Anja Schneider, Helmut Mooshammer, Judith Hofmann, Christoph Franken, Linn Reusse, Caner Sunar, Birgit Unterweger und Michael Goldberg
Uraufführung am Deutschen Theater Berlin: 17. November 2017
Weitere Termine: 25.11. / 04., 14., 26.12.2017
Weitere Infos siehe auch: http://www.deutschestheater.de
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