Erinnerungs-
Kulturen
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(C) Esra Rotthoff
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Bewertung:
Momentan wird allerorten an den friedlichen Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren gedacht. In diesem Kontext veranstaltet das Maxim Gorki Theater seit dem 7. November das Festival „Voicing Resistance“ (Stimmhafter Widerstand) im Studio R. Es wäre trotz Megafon im Veranstaltungs-Plakat fast unbemerkt geblieben, wenn nicht eine Performergruppe mit dem schönen Namen „Zentrum für Politische Schönheit“ im Rahmen des Festivals die Gedenkkreuze für die Toten an der Berliner Mauer ebenso unbemerkt abgeschraubt und sich damit auf den Weg an die außereuropäische Grenze begeben hätte, mit der Absicht, dort den unmenschlichen Grenzzaun abzubauen. Eine Kunstaktion, die das Gedenken der Daheimgebliebenen auch auf die Toten lenken sollte, die das rigide Einwanderungsregime der „Festung Europa“ bisher gefordert hat. Und damit sind nicht nur die vielen Ertrunkenen vor Lampedusa gemeint. Die allgemeine Aufregung war groß, und die Einmischungsversuche deutscher Politiker in die Kunstausübung des kleinen Theaters am Berliner Festungsgraben, das gerade noch als Vorzeigeobjekt gelungener Integration sowie Theater des Jahres in aller Munde war, nahmen daraufhin erschreckende Ausmaße an.
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„Erinnern ist Aufstand!“
Die Publizistin und seit einem Jahr auch feste Kolumnistin des Maxim Gorki Theaters Mely Kiyak, Tochter aus der Türkei stammender kurdischer Einwanderer, schreibt in ihrer monatlichen Kolumne auf der Website des Theaters zum Thema "Grenzen überschreiten": „Und so erinnere ich daran, dass wir alle am Gorki landeten, weil wir Aufständler sind. Kein Politiker hat mir oder irgendjemand anderem an diesem Haus zu sagen, wie man damit umgeht, ein politisches Opfer zu sein und was die angemessene Form des Gedenkens sei. (…) Meine Eltern kommen aus einem System, in dem mit politischer Kunst nie anders umgegangen wurde, als es der Berliner Innensenator gerade vorgemacht hat. Daran erinnern ist auch Aufstand!“
Parallel hat Mely Kiyak nun also auch ihr erstes Theaterstück geschrieben. In Aufstand (im Juni am koproduzierenden Badischen Staatstheater Karlsruhe uraufgeführt) geht es neben Protest und Widerstand vor allem auch um das wichtige Thema Erinnerung. Der Protagonist des Stücks ist ein junger kurdischer Lehrer aus Diyarbakır, einer Stadt im Südosten Anatoliens in der Türkei. Er vertritt dort von 8 bis 12:30 Uhr als türkischer Staatsbeamter die Grundsätze des Landes, ist aber nach halb eins Künstler, der in seinen Videoarbeiten das Unrecht des Staates Türkei an der kurdischen Bevölkerung kritisiert. Das bedeutet für den Lehrer die Wahrheit nicht auszusprechen zu können - als Künstler fühlt er sich dagegen aber geradezu verpflichtet dies zu tun. Ein Leben zwischen innerer Zerrissenheit und permanentem Ausnahmezustand. Während er als Gast des DAAD in Berlin eine Performance vorbereitet, die per Video in eine Galerie in Istanbul übertragen werden soll, erzählt er uns, seinem Publikum, die Geschichte von der Unterdrückung des kurdischen Volkes in der Türkei.
Sein Künstlername ist Bênav, was so viel heißt wie anonym, ohne Namen, da er seinen kurdischen Namen offiziell nicht benutzen kann und seinen türkischen Namen nicht benutzen will. Seine Familie ist, als er noch ein Junge war, aus ihrem Dorf vertrieben worden, was er in einer Videoarbeit Lese ich die Karte falsch? thematisiert hat. Dagegen haben türkische Künstler Unterschriften gesammelt und somit seine Teilnahme an einer Ausstellung in Deutschland verhindert. Bênav erzählt von der ständigen Bevormundung und Kontrolle des Staates, die vom Verbot der Sprache bis zu direkten Repressionen der türkischen Armee gegen die Kurden reicht. Selbst noch in Deutschland lassen ihn Künstlerkollegen aus der Türkei bei einem Empfang des DAAD ihre Überlegenheit spüren.
„Stell dir vor, es ist Revolution, und die falschen Leute zetteln sie an.“
Nachdem im Frühjahr 2013 die allgemeinen Proteste gegen die türkische Regierung im Istanbuler Gezi Park ausgebrochen sind, keimt nun auch neue Hoffnung bei Bênav. Doch in Istanbul angekommen, fühlt er sich keiner der unterschiedlichen Gruppen zugehörig. Den Lippenbekenntnissen derjenigen, die ihn einst anschwärzten und nun „Wir sind alle Kurden“ rufen, kann er nicht glauben. „Jetzt wo ihr selber rebelliert, weil ihr die Schnauze voll habt von diesen ganzen Schweinereien, die um euch herum passieren, kommt ihr und sagt: ‚Ist das keine Schweinerei, wie sie mit uns umgehen?’ Jetzt, wo ihr merkt, dass die Zeitungen Scheißdreck verbreiten, kommt ihr und fragt: ,Sind diese Medien kein Skandal?’ Nein! Das sind keine Schweinereien, das ist kein Skandal! Das lief doch immer schon so.“ Enttäuscht fährt Bênav wieder nach Diyarbakır zurück.
Mely Kiyak zeichnet das Portrait eines Künstlers, den seine Wut über die Ungerechtigkeit in seinem Land überall anecken lässt, der aber dennoch nicht aufgeben will immer wieder daran zu erinnern. Seine innere Zerrissenheit hindert ihn nicht daran, einen guten Job für die Kinder und mit seinem unangepasst rebellischen Geist Kunst gegen die Dummheit zu machen. Der Schauspieler Mehmet Yılmaz spricht mit unverfälschter Emotionalität und auch einem leicht ironischen Unterton Kiyaks in ihrem typischen, sehr direkten Kolumnenton verfassten Text. Den Rahmen der geplanten Videoaktion zum Thema Demonstrationen nutz der ungarische Regisseur András Dömötör (der bereits mit Marianna Salzmanns Notizen über Hurenkinder und Schusterjungen das Thema Rebellion aufgegriffen hat), um auch das Publikum direkt mit einzubeziehen. Die Interaktion wird zum unmittelbaren Ausgangspunkt einer kleinen Exkursion in Bürgerrechte und die aktuelle Protestkultur.
Die Ausführungen Bênavs, als Mittler von Kiyaks Gedanken, drehen sich unmittelbar auch um Ereignisse aus der deutschen, türkischen, kurdischen und armenischen Geschichte. Der Holocaust und der Genozid an den Armeniern, ein ebenso heikler Vergleich wie der der Mauertoten mit den toten Flüchtlingen an den europäischen Grenzen. Und so gestaltet sich auch dieses Stück unversehens zum Beispiel für die künstlerische Rebellion gegen eine von oben übergestülpte Erinnerungskultur.
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Mely Kiyaks Aufstand - uraufgeführt am Badischen Staatstheater Karlsruhe - Foto (C) Felix Grünschloß | Bildquelle: Badisches Staatstheater Karlsruhe
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Stefan Bock - 22. November 2014 ID 8270
AUFSTAND (Studio R, 20.11.2014)
Regie: András Dömötör
Dramaturgie: Daniel Richter
Bühne & Kostüme: Moira Gilliéron
Mit: Mehmet Yılmaz
Uraufführung in Karlsruhe war am 27. Juni 2014
Berliner Premiere: 20. 11. 2014
Weitere Termine: 11. 12., 26. 12. 2014 (in Berlin)
28. 11., 7. 12. 2014 / 11. 1. 2015 (in Karlsruhe)
Koproduktion mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe
Weitere Infos siehe auch: http://www.gorki.de/
Post an Stefan Bock
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