"Und wer entschuldigt sich dafür?"
EIN EXEMPEL - Mutmaßungen über die sächsische Demokratie von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
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Ein Exempel am Staatsschauspiel Dresden - Foto (CI) Matthias Horn
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Bewertung:
Die Frage nach der Verantwortlichkeit, die der Hauptakteur A. am Ende, nachdem er seinen Prozess dann doch irgendwie erfolgreich überstanden hat, den Mitspielern stellt, vermag niemand zu beantworten. Freundin und Kind weg, Job verloren, seelisch zerrüttet, aber... So richtig daran schuld ist keiner. Alle haben nur ihre Pflicht getan, im Durchschnitt, die einen mehr, die anderen weniger.
"Wer sich in Gefahr begibt" - muss zumindest mit den Folgen leben, selbst wenn er eher zufällig hineingeriet. Ist das so? Und warum ist das so?
Lutz Hübner und Sarah Nemitz rekonstruieren anhand eines fiktiven Falls die Geschehnisse des Februar 2011 in Dresden, als anlässlich des alljährlichen Naziaufmarsches die Gewalt auf allen Seiten eskalierte, und deren rechtliche Aufarbeitung. Basis dafür waren umfangreiche Recherchen und Gespräche mit Beteiligten aus Justiz, Politik und Gesellschaft sowie die dramaturgische Bearbeitung durch Beret Evensen.
Von Anfang an spielt das Stück auf zwei Ebenen:
Einer gesellschaftlichen, auf der versucht wird zu klären, ob es eine besondere "sächsische Form" des Umgangs mit linken Gegendemonstranten gab und gibt. Hier wirft der Stoff v.a. wichtige Fragen auf, naturgemäß kann er keine allgemeingültigen Antworten geben. Aber die Darstellung hilft, sich selbst eine Meinung zu bilden.
Die andere Ebene ist die persönliche, und auf jener kann man beobachten, was mit einem geschieht, der unvermittelt ins Visier der Ermittlungsbehörden gerät. A., bislang nicht gerichtsbekannt, wird durch eine Gruppe von gegen eine "Multikulti-Veranstaltung" protestierenden Neonazis in dem Klub, in dem er an der Kasse sitzt, gezielt provoziert und lässt sich zu einem Büchsenwurf in Richtung der Eindringlinge hinreißen. Im folgenden Gerangel mit der inzwischen eingetroffenen Polizei bringt er durch sein Stolpern einen Beamten zu Fall, was zu seiner Festnahme und erkennungsdienstlichen Behandlung führt. Danach wird er nach Hause entlassen.
Damit hätte es sein Bewenden haben können, aber mangels anderer Übeltäter und wegen eines von der Gegenseite (im Stück "Die Einzigen" als scheinbar gemäßigte Variante einer Rechtsaußenpartei) lancierten Videos wird ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet. Glaubt A. zunächst, "die meinen nicht mich", muss er sich langsam damit abfinden, ein Beschuldigter zu sein. Man kann den ganzen quälenden, fast kafkaesken Prozess im Detail mitverfolgen, von der anfänglichen Verunsicherung und der hundertmaligen Selbstvergewisserung, dass er nichts Strafbares getan habe, über das quälende Warten auf seine Vernehmung und schließlich deren absurden Ablauf mit ungewissem Ausgang bis zur Zerrüttung seiner Familie, dem Verlust der Arbeitsstelle und der Zersetzung seiner Persönlichkeit, gipfelnd in einer völligen Isolation. A. (der von einem sehr authentischen Sascha Göpel großartig gespielt wird) hat am Ende alles verloren, ob er wieder in ein normales Leben zurückfinden wird, scheint fraglich.
Trotz eines am Ende - so darf man wohl vermuten - wegen entlastender Beweismittel, die die Staatsanwaltschaft zurückhielt, für ihn positiv ausgehenden Prozesses ist A. der Verlierer, zu viel ist ihm und mit ihm geschehen, währenddessen die Mühlen der Justiz ganz langsam, aber stetig mahlten. Die Frage nach einer Entschuldigung ruft Kopfschütteln und Gelächter hervor, so etwas ist im System nicht vorgesehen.
Es ist eine Versuchsanordnung mit fünf Schauspielern, die der Regisseur Jan Gehler meist gewollt untheatralisch auf die Bühne bringt. Jene ist anfangs gedrittelt und rotiert zwischen Klub, Polizeiwache und heimeliger Wohnung, später verwandelt sie sich in einen Gerichtssaal. In jenem agiert Karina Plachetka als kämpferische Verteidigerin, zuvor spielt sie die Lebenspartnerin von A., der sichtbar mehr und mehr die Kraft ausgeht, ihren Freund zu stützen. Christine Hoppe ist als kalte Staatsanwältin ebenso beängstigend gut wie als Wortführerin der Neonazis vor dem Klub. Albrecht Goette muss als Polizist auch für die komischen Momente sorgen, wobei einem das Lachen öfter im Hals stecken bleibt, weil die (nicht nur technischen) Unzulänglichkeiten dieser Behörde allzu klar benannt werden. Sein Einblick in die Gefühlswelt eines bei einer Demonstration im Einsatz befindlichen Ordnungshüters gehört für mich dabei zu den stärksten Szenen des Stücks. Philipp Lux schließlich hat als Polizist und am Ende als Richter undankbare Aufgaben, derer er sich aber mit Bravour entledigt, ohne in eine Karikatur zu verfallen. Dennoch ist die Distanz zur Rolle immer zu spüren, nicht nur beim Heraustreten aus derselben. Für mich bringt er neben Sascha Göpel die stärkste Leistung des Abends.
Hübner und Nemitz gebührt in vielerlei Hinsicht Dank. Nicht nur, dass sie ein sehr aktuelles politisches Thema aufgreifen, es gelingt ihnen auch, die Komplexität des Stoffes zu reduzieren und dennoch nicht zu sehr zu vereinfachen, von wenigen verzichtbaren Klamauk-Elementen abgesehen. Man sieht keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern eine sehr genaue Beschreibung einer Situation, in die (fast) jeder geraten kann. Das Stück liefert keine vorgefertigten Antworten, aber es stellt die richtigen Fragen.
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Wer wollte, konnte im Anschluss in der ersten von drei Podiumsdiskussionen (die anderen finden am 2. und am 12. Juli statt) den Dingen weiter auf den Grund gehen. Unter Moderation von Frank Richter, dem Leiter der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung diskutierten der Sprecher des Bündnis "Dresden Nazifrei", eine wegen der Blockade des Naziaufmarsches 2011 verurteilte Bürgerin und der zuständige Oberstaatsanwalt "Juristische Strategien gegen politisch motivierte Straftaten". Es würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen, alle Statements einschließlich jener aus dem Plenum wiederzugeben, aber es ist von einer trotz deutlich differierender Meinungen zumeist wohltuend sachlichen Atmosphäre zu berichten, die dem Theater als offenen Denk- und Streitraum bestens gerecht wurde. Prägnanter als jene ältere Dame, die ganz am Ende zu Wort kam und sinngemäß von der Notwendigkeit sprach, noch viel mehr Menschen gegen Nazidemonstrationen auf die Straße zu bringen, um vermeintliche Gesetzesverstöße (gegen das Recht auf Versammlungsfreiheit) de facto zu legitimieren, kann man die Botschaft des Stücks wohl nicht formulieren.
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Ein Exempel am Staatsschauspiel Dresden - Foto (CI) Matthias Horn
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Sandro Zimmermann - 28. Juni 2014 ID 7929
EIN EXEMPEL (Kleines Haus, 27.06.2014)
Regie: Jan Gehler
Bühne: Sabrina Rox
Kostüm: Irène Favre de Lucascaz
Licht: Björn Gerum
Dramaturgie: Beret Evensen
Besetzung:
A – Angeklagter ... Sascha Göpel
B – Freundin von A / Verteidigerin ... Karina Plachetka
C – Neonazi 1 / Konzertbesucherin / Freundin 2 / Staatsanwältin ... Christine Hoppe
D – Neonazi 2 / Polizist 1 / Freund 1 / Landesvater ... Albrecht Goette
E – Neonazi 3 / Konzertbesucher / Polizist 2 / Freund 3 / Richter ... Philipp Lux
Uraufführung war am 14. Juni 2014
Weitere Termine: 2. + 12. 7. 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsschauspiel-dresden.de
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