"Alle sind
Arschlöcher."
MITLEID. DIE GESCHICHTE DES MASCHINENGEWEHRS von Milo Rau
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Mitleid in der Schaubühne am Lehniner Platz | Foto (C) Daniel Seiffert
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Bewertung:
In seinem Fünf-Punkte-Aufruf gegen den „zynischen Humanismus oder wie man anfängt, die Welt zu retten“ in der Züricher Sonntagszeitung hatte Milo Rau schon vorab den Rahmen seiner neuen Inszenierung an der Berliner Schaubühne abgesteckt. Der Vorwurf des bekannten Schweizer Recherche-Theatermachers (u.a. Hate Radio, Breiviks Erklärung, The Civil Wars oder Das Kongo-Tribunal) richtet sich vor allem gegen die Ignoranz der westlichen Welt, die es sich beim Unterschreiben von Online-Petitionen in einer Art „Wohlfühl-Ethik“ bequem macht. Und so lautet dann auch das für uns wohl eher etwas unerfreuliche Motto des Theaterstücks Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs: „Alle sind Arschlöcher“.
Hinzufügen sollte man noch, dass es Rau auch um den aufklärerischen Aspekt von Theater geht. Im Programmheft äußert sich der Regisseur zur westlichen Selbstgerechtigkeit wie folgt: „2015 war ein heilsames Jahr: Es war das Jahr, in dem sich auf Grund der sogenannten Flüchtlingskrise die Nebelwand auflöste, die uns bis dahin vor dem Anblick der Folgen unserer Wirtschaftspolitik im Nahen Osten und in Zentralafrika geschützt hatte.“ Eine Auffassung, die auch in den Aktionen des Zentrums für politischen Schönheit um Philipp Ruch vertreten wird, damit niemand mehr behaupten könne, er hätte von den Folgen der Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik des Westens nichts gewusst.
Allerdings richtet sich Raus Stück nun vor allem gegen den aufkommenden „Charity-Diskurs“, der die vorgenannte Nebelwand wieder aufgezogen habe. „Wer sieht uns, wenn wir leiden?“ ist dann auch die zentrale Fragestellung des Abends, der in drei Teile gegliedert ist. Zentral steht der von Ursina Lardi an einem Rednerpult auf zugemüllter Bühne vorgetragene Bericht einer ehemaligen Entwicklungshelferin, die noch einmal zu Recherchezwecken für ein Theaterstück in den Kongo gereist ist und mit etwas Nostalgie in der Stimme auf ihre Zeit als Mitglied einer NGO-Organisation namens „Teachers in Trouble“ zurückblickt. Das ist natürlich ein aus Berichten mehrerer NGO-Mitarbeiter zusammengeschnittener Vortrag, der auch ganz bewusst etwas Künstliches, Belehrendes an sich hat. „Rette die Welt. Du dies, tu jenes nicht.“ So kokettiert Lardi mit ihrer eigenen Erfahrungen als Schauspielerin und den erlernten Mitteln der Darstellung. Übungen, abgestuft von leicht bis schwer, mit denen man die Botschaft zum Publikum rüberbringt. Mitleid zu erregen fällt nicht schwer, vor allem unterstützt durch das richtige Bildmaterial wie etwa das Foto des vor der Küste der Türkei ertrunkenen Flüchtlingsjungen Aylan, das Lardi in die Kamera hält.
Der leicht ironischen Kritik am vorherrschenden Theater, dass das Elend der Welt noch einmal für die eigenen Zwecke instrumentalisiert, folgt die Beschreibung des Werdegangs einer angehenden Entwicklungshelferin, dem Drang folgend, im Leben etwas Sinnvolles zu tun, das sich dann auch noch gut im Lebenslauf und auf Partys macht. Lardis Erzählungen aus dem Leben in einem Flüchtlingslager im kongolesischen Goma an der Grenze zu Ruanda sind teilweise an Zynismus nicht zu überbieten. Um die Schreie der von den Hutus umgebrachten Tutsi nicht hören zu müssen, dreht sie Beethovens 7. Sinfonie immer lauter. Als sie später die aus Ruanda geflohenen Täter in einem Workshop betreuen muss, entlädt sich ihr ganzer Ekel über deren Verhalten. Aber auch nach dem Einmarsch der Tutsi-Befreiungsarmee in Goma nimmt das Töten kein Ende, das nun auch die einheimischen Mitarbeiter betrifft. In einer Art metaphorischem Albtraum beschreibt Lardi die Demütigung einer Frau und pinkelt dabei auf die Bühne. Theatralisch umschreibt sie das zwiespältige Wesen der NGOs mit Ödipus, der schon vorher weiß, dass er an der Pest in Theben Schuld ist und dennoch weiter sucht.
Umrahmt wird dieser recht zynische Bericht mit der Lebensgeschichte der in Burundi geborenen Schauspielerin Consolate Sipérius. Sehr frisch und im Gegensatz zu Lardis gespieltem Duktus zwischen Belehrung und zeitweiliger Empörung vermag diese Erzählung wirklich zu berühren. Mit viel Ironie und einiger Verwunderung über ihr neues Leben im Westen Europas, in das Sie nach der Adoption durch eine belgische Pflegefamilie kam, legt sie den Finger noch einmal in die richtige Wunde. Consolate Sipérius hat als Kind den Genozid 1993 in Burundi überlebt. Sie ist eine Zeugin, wie sie selbst betont. Jedoch inszeniert sie sich bewusst nicht, und wird auch von Rau nicht als Opfer inszeniert, sondern als selbst denkendes, empfindendes und handelndes Wesen.
Das verdeutlicht sich auch im Vergleich zweier Kinofilme, die sich um Gewalt und Rache drehen. Ursina Lardi erzählt die Geschichte von Grace aus Lars von Triers Parabel Dogville, bei der die quälenden Dorfbewohner am Ende mit Maschinengewehren erschossen werden. Consolate Sipérius schildert die Szene aus Quentin Tarantinos Inglouries Bastards, in der von französischen Widerstandskämpfern in ein Kino eingesperrte Nazis durch die Jüdin Shosanna, deren Familie sie umgebracht hatten, von der Leinwand herunter von ihrem nahen Tod erfahren. Am Ende kommt es darauf an, wer die Maschinengewehre hat, ist das Fazit von Lardi mit der Kalaschnikow in der Hand, während Sipérius sich für eine Soundcollage mit lachenden Kindern aus Burundi entscheidet. Ein Schuss Hoffnung am Ende eines nicht nur wegen des Mülls auf der Bühne recht ungemütlichen Theaterabends, der, mal ganz abgesehen von einer Katharsis, sicher noch länger nachwirken wird.
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Ursina Lardi in Mitleid in der Schaubühne am Lehniner Platz | Foto (C) Daniel Seiffert
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Stefan Bock - 31. Januar 2016 ID 9107
MITLEID. DIE GESCHICHTE DES MASCHINENGEWEHRS (Schaubühne am Lehniner Platz, 29.01.2016)
Regie: Milo Rau
Bühne und Kostüme: Anton Lukas
Video und Sound: Marc Stephan
Dramaturgie: Florian Borchmeyer
Mitarbeit Recherche/Dramaturgie: Mirjam Knapp, Stefan Bläske
Licht: Erich Schneider
Mit: Ursina Lardi und Consolate Sipérius
Uraufführung war am 16. Januar 2016
Weitere Termine: 31. 1. / 10., 11., 14. 2. / 31. 3. 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.schaubuehne.de/
Post an Stefan Bock
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