Das Leben als Hashtag
NEVER FOREVER, das neue Text- und Tanzprojekt von Falk Richter und TOTAL BRUTAL an der Berliner Schaubühne behandelt die Probleme der zwischenmenschlichen Beziehungen im Zeitalter der digitalen Kommunikation
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Never Forever in der Schaubühne am Lehniner Platz - Foto (C) Arno Declair
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Bewertung:
Sie sitzen eingesperrt in flexible, aus Metallstangen bestehende Raumgebilde, mal monologisierend, mal miteinander redend, wenn überhaupt nur per Telefon. Es geht wiedermal um die sogenannten disconnected people in der Schaubühne am Lehniner Platz. Die Vereinzelung des modernen Großstadtmenschen durch die Möglichkeit der Nutzung digitaler Nachrichtendienste und sozialer Netzwerke ist nicht mehr nur ironische Beschreibung des Zeitgeists, sie ist mittlerweile bittere Realität. Die hauptsächliche Kommunikation erfolgt heute meist über Twitter, Facebook, Instagram oder WhatsApp. Ein oder mehrere Schlagworte für 140 Zeichen Information. Was sind die Highlights? Fasse dich kurz! Für mehr reicht oft nicht die Zeit. Das Leben funktioniert als Hashtag.
Der Hashtag (#) dient der praktischen Verschlagwortung und vor allem natürlich der bestmöglichen Selbstdarstellung. Das Ganze folgt dabei einem einfachen, logischen Prinzip. Je mehr Schlagworte, desto größer die Chance auf mehr Follower. Das Internet generiert in kürzester Zeit eine wachsende virtuelle Gemeinschaft mittels des Schneeballprinzips. Nur was ist, wenn es plötzlich zum menschlichen Systemausfall kommt? Wenn die Angst vor und die Sehnsucht nach körperlicher Nähe sich unterbewusst und schmerzhaft überlagern? Davon erzählt das neue Theaterprojekt von Autor und Regisseur Falk Richter.
NEVER FOREVER ist eine konsequente Fortsetzung und Weiterentwicklung seiner letzten Inszenierungen an der Berliner Schaubühne von Trust über Protect Me bis hin zu For the Disconnected Child. Richter folgt dabei über die Jahre einem ganz bestimmten Themenkatalog, etwas redundant zwar, aber immer weitestgehend stringent durcherzählt, in locker gebundenen Szenenfolgen mit Musik- und Tanzbegleitung. Im Mittelpunkt der geplagte, durch die Segnungen der Moderne deformierte, globale Großstadtmensch, beziehungsgestört, heimatlos, und vom eigentlichen Leben abgetrennt.
Auch in NEVER FOREVER sind die Figuren lose über Eck miteinander verbunden. Da ist die Psychologin (Regine Zimmermann), die einerseits die Nähe zu ihrer Mutter (Ilse Ritter) sucht, einer alternden Schauspielerin, die nie die Mutterrolle übernehmen wollte. Anderseits aber klagt sie über den Distanzverlust zu einer Patientin, die selbstgefilmte Videos von sich auf ihren YouToub-Channel mit weit über 1.000 Followern stellt. Ein Ex der Psychologin (Tilman Strauß) folgt dieser Frau zwanghaft im Internet, will alles über sie erfahren und sich mit ihr treffen.
Die Leute sind vom Internet besessen und pflegen das Ich-Projekt bis zum Exzess. Sie haben Angst vor körperlicher Nähe, aber das Bedürfnis nach Beziehungen, die allerdings nur kurz und nie zweckfrei sein dürfen. Die Angst nicht gewollt zu werden, die Anforderungen des anderen nicht zu erfüllen, führt zur maximalen Selbstoptimierung im Netzt. Das Internet ist zur Plattform ihres Lebens geworden, die Festplatte zum Speichermedium aller Kontakte. Bei deren Absturz droht der Rückfall in die analoge Daseinsform, in der aber schon alle Erinnerungen vernichtet sind. Die scheinbare Freiheit im Netz wird zur Krise der Freiheit in Beziehungsfragen. Man will keinerlei Verbindlichkeiten eingehen, sich alle Optionen offenhalten.
Die Schauspielerin vergleicht ihr Leben mit dem ihrer Rollen, in denen sie Fehler machen und sich ausprobieren konnte. Sie hat die Texte für ihre Abschiede immer auf Kassette gespielt. Auf die Frage eines von seiner Frau vor die Tür gesetzten Mannes (Florian Bilbao), wie man eine Sprache finden könnte, um seine Gefühle auszudrücken, weiß sie aber keine Antwort. Verzweifelt ringt ein anderer Mann (Kay Bartholomäus Schulze) nach Worten, probt vor leerem Stuhl ein Gespräch mit seiner Freundin, lässt es aber wieder bleiben. Diese disparaten Menschen befinden sich auf der anderen Seite der Wirklichkeit. Wer keine Spuren mehr wie Selfies auf Facebook oder in den Kommentarspalten der Online-Magazine hinterlässt, wird zum Rätsel, ist irgendwann nicht mehr existent.
Wie untote Dämonen, digitale Zombies bewegen sie sich in Nebelschwaden zu treibenden Elektro-Sounds von Malte Beckenbach über den Boden. Zwanghaftigkeit und Aggression spiegeln sich in den dynamischen Tanzchoreografien Nir de Volffs, die neben seiner Kompagnie TOTAL BRUTAL auch die Schauspieler des Schaubühnenensembles mit einbeziehen. Die Figuren hasten über die Bühne, drehen, winden sich oder hängen verloren in den Gestängen des Bühnenbilds. Solistisch und paarweise werden Anziehung und Abstoßung zelebriert. Dass sich Falk Richter für diese Produktion wieder einen professionellen Choreografen geholt hat, wirkt sich sehr positiv auf die Gesamtästhetik des Abends aus.
Auch die Textparts sind nicht nur auf die Schauspieler beschränkt. Falk Richter hat seine Notizen auf alle verteilt, und im Probenprozess erst zum fertigen Text umgearbeitet. Das wird auch von Regine Zimmermann für eine schöne ironische Einlage genutzt, in der sie aus der Rolle heraus die Probensituation für eine romantische Liebeszene mit vorgestelltem Partner beschreibt. Sie will aber das echte Gefühl und dass der Mann sich für sie interessiert. Für diesen Fall ist der gewünschte Partner im Stück aber wieder zu müde, zu busy oder beides. Das rutscht zwar knapp am Klischee vorbei, mündet aber in einen wunderbar verlorenen Monolog von Ilse Ritter als Fausts Gretchen am Spinnrad.
Das Gebet der verzweifelt Liebenden: "Meine Ruh ist hin / Mein Herz ist schwer / Ich finde sie nimmer und nimmermehr" leitet eine fast schon spirituelle Wende und Rückbesinnung zu den eigentlichen Werten zwischenmenschlicher Beziehungen hin. Die alternde Schauspielerin bildet mit ihren Worten einen imaginären Raum - wie ihn das Theater auch darstellt - , in dem alles Vergangene, Gefühle wie Menschen, Platz haben und weiterleben. Bis auch sie sich schließlich als Demenzkranke verliert: "Mein armer Kopf / Ist mir verrückt / Meiner armer Sinn / Ist mir zerstückt". Eine große emotionale Szene.
Falk Richters Text ist philosophisch grundiert mit dem passenden Überbau im Programmheft. Selbstoptimierung, Neoliberalismus, Psychoanalyse, soziologische Fragen, Einsamkeit, Angst vor Krankheit, Alter und Tod, alle Gedanken dazu finden sich irgendwo im Stück wieder. Was bei aller Kunst aber auch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Falk Richter mal wieder an den bekannten Symptomen herumdoktert und dem Internet vielleicht mehr Bedeutung zumisst, als ihm als Versucher der eigentlichen Probleme zukäme. Es wirkt mit Sicherheit potenzierend. Als aktuelle Gesellschaftskritik des Kapitalismus und seiner Auswirkungen ist NEVER FOREVER aber nur bedingt tauglich.
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Never Forever in der Schaubühne am Lehniner Platz - Foto (C) Arno Declair
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Stefan Bock - 10. September 2014 ID 8078
NEVER FOREVER (Schaubühne am Lehniner Platz, 09.09.2014)
Text und Regie: Falk Richter
Choreographie: Nir de Volff / TOTAL BRUTAL
Bühne: Katrin Hoffmann
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Malte Beckenbach
Dramaturgie: Nils Haarmann
Licht: Carsten Sander
Mit: Florian Bilbao, Katharina Maschenka Horn, Johanna Lemke, Ilse Ritter, Chris Scherer, Kay Bartholomäus Schulze, Tilman Strauß und Regine Zimmermann
Uraufführung war am 9. September 2014
Weitere Termine: 10. - 12. 9. / 22. - 24. 10. 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.schaubuehne.de/
Post an Stefan Bock
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